Wunder sind nicht verboten

Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Wunder sind nicht verboten

Fußball-Nerds wissen viel unnützes Zeug. Am Tag, an dem diese Kolumne entstand, war ich mit meinen Jungs auf dem Friedhof, um der Oma meiner Frau die Aufwartung zu machen. Noch am Grab der alten Dame konnte ich ihnen die Geschichte vom Friedhof in Neapel erzählen. Dort hatte nämlich jemand nach der heiß ersehnten Meisterschaft von Maradonas Napoli an die Mauern der Friedhofsmauern geschrieben „Ihr wisst gar nicht, was Ihr verpasst habt!“. Da mich nach der Anekdote nicht auf der Stelle der Blitz traf und auch meine Frau leicht, wenn auch nicht zu auffällig lächelte, schätze ich, dass man mit solchem Wissensschatz durchaus auch an solchen Orten glänzen kann. 

Natürlich wissen solche Nerds wie ich auch, dass die ersten Regeln des großen Spiels im Jahr 1863 runtergeschrieben wurden. Das ist zwar etwas mit dem man nicht an Gräbern aufwarten kann, aber vielleicht in solchen Kolumnen. Allerdings gehört auch zur Wahrheit: So richtig fertig wurden die Regelhüter des Fußballs seinerzeit nicht. Denn es musste ständig an ihnen herumgeschraubt werden bis das Spiel endlich so war, wie wir es heute kennen. Das Handspiel für Feldspieler zum Beispiel wurde erst sechs Jahre nach den ersten Regeln verboten. Den Torhütern wurde sogar erst 1913 untersagt das runde Leder außerhalb des eigenen Sechszehners in die Hand zu nehmen. Die Querlatte ließen sich die Regelhüter des Fußballs erst 20 Jahre nach den ersten Paragraphen einfallen. Und man schrieb selbst in Aachen erst das Jahr 1897, also 34 Jahre nach dem ersten Regelbuch, als den Gremien des Fußballs einfiel: „Ein Spiel dauert 90 Minuten!“. Reichlich spät kam der Geistesblitz, das Spiel zeitlich zu begrenzen. Vorher spielte man in bester Bolzplatz-Manier gerne bis 10 oder verfuhr nach Einbruch der Dunkelheit nach dem D-Jugend-Klassiker „Das letzte Tor entscheidet!“. 

Wenn man so will, feierten die 90 Minuten also erst 36 Jahre nach 1860 München oder drei Jahre vor Alemannia ihren Geburtstag. Allerdings so richtig durchgesetzt haben sie sich noch immer nicht, wenigstens nicht an Orten wie Münster, Bonn oder Essen. Denn dort gilt seit diesem Jahr eine ganz andere Faustregel: „Ein Spiel dauert genauso lange bis Alemannia Aachen es verloren hat!“.

Es gibt Dinge, die kannst Du nicht erfinden und meistens haben die irgendwie mit Alemannia zu tun. Am letzten Samstag verlor Alemannia ein Spiel gute 5 Minuten später als es eigentlich seit 1897 geboten ist, ein Spiel, das vor Symbolik so sehr trotzte, dass es ihm fast zu den Ohren herauskam. Plötzlicher Trainerwechsel, der den alten Trainer-Held zurück auf die Bank bugsiert und eine eigentlich mausetote Mannschaft, die selbst Gegner wie Viktoria Arnoldsweiler mühevoll niederringen muss – beide zu Gast beim scheinbar übermächtigen Traditionsclub aus Essen. Alemannia mit dem Rücken zur Wand – mal wieder. Oder wie immer. Keine Hoffnung, keine Chance, keine Zukunft. Und dann bekommst Du genau das: neue Hoffnung, ein bisschen Zukunft, eine kleine Chance und eben ein kleines aber für die Moral der Sache immens wichtiges Pünktchen. Das alleine kannst Du eigentlich schon nicht erfinden – aber wenn Dir dann ausgerechnet ein Mann mit dem Namen Herzenbruch dein Herz bricht und zwar so, wie es seit 1897 streng verboten ist, dann weißt Du, was der gute alte Alex Ferguson mal so ausdrückte: Football, bloody hell! Oder anders gesagt: „Da leck mich doch mal am Arsch!“. 

Desolate Heimniederlagen, triste Nullnummern bei maroden Pflichtabsteigern oder zerstobene Träume, die sich in desillusionierenden Tabellenplätzen äußern– all das hat man ja schon er- und überlebt. Aber wenn die Gegentore in tödlicher Regelmäßigkeit in den allerletzten Minuten, nein in den Minuten fallen, die eigentlich gar nicht mehr zum Spiel gehören, dann wird es Zeit für Wunder – eines der Sorte, die auf Friedhofsmauern geschrieben werden. Außerhalb von Neapel sind die aber eigentlich unmöglich. Verboten sind sie allerdings nicht, seit 1863 jedenfalls nicht. Fuat Kilic, bitte übernehmen Sie!

Diese Kolumne erschien anlässlich des Heimspiels der wunderbaren Alemannia aus Aachen gegen den SV Straelen. Alemannia gewann übrigens kurz vor Schluss. Der Rest ist Kilic.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker