Wir könnten doch Freunde bleiben

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 18.05.2021
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Wir könnten doch Freunde bleiben

Mein Blick wurde zu Lots Frau kurz nachdem sie auf Sodom zurückschaute. Völlig leer und sich in der stumpfen Umgebung verlierend schaute ich in das Vakuum der Niederlage. Ich hatte alles getan, um sie zu verhindern. Die in der Vorwoche per Hauruck-Aktion besorgte Voodoo-Puppe baumelte mit einem „1860 München“-Schild am TV-Gerät – akribisch an allen entscheidenden Körperteilen mit spitzen Nadeln durchstochen. Die Nichtraucher-Zigarette glühte mehrfach und meinen Fußballkeller hatte ich vorsorglich mit dem rechten Fuß zuerst betreten. Im Grunde war alles angerichtet für die Rettung und an mir sollte es nun wirklich als Letztem liegen. Ein Abstieg aus der zweiten Liga war für mich schlicht undenkbar. Als bis dahin souveräner Spitzenreiter der ewigen Zweitliga-Tabelle steigt man nicht ab. Und doch geschah es und zwar obwohl David Odonkor endlich zündete, Marco Stiepermann endlich stürmte und Albert Streit endlich den Ball genauso streichelte wie seine Kapitänsbinde. Vermeintlich große Namen, die sich aber zu spät aufrafften und daher ebenso wenig bewirkten wie diese nichtsnutzige Voodoo-Puppe an meinem Fernseher. Zwar gewann Alemannia in der Allianz-Arena das letzte Spiel in der eigentlich für sie reservierten zweiten Liga, aber weil Eintracht Frankfurt erst satte neun Jahre später ein bisschen cool werden sollte, ging an diesem Sonntag endgültig schief, was sich schon Monate vorher abgezeichnet hatte. An dem Tag, an dem diese Kolumne entsteht vor neun Jahren stieg Alemannia ab und sollte nie wieder zurückkommen. 

Abstiege sind vernichtend. Sie katapultieren Dich erbarmungslos in die Welt der Niederlagen. Während Du scheinbar wie parallelisiert auf den Bildschirm starrst, auf dem sich enttäuschte Spieler über den Rasen wälzen und mitgefahrene Fans weinend gegen Wellenbrecher pressen, dreht sich in Dir plötzlich alles, während Deine enttäuschte Hülle eben zur Salzsäule erstarrt. In solchen Momenten stehst Du wieder sechzehnjährig vor diesem Partyzelt in irgendeinem Eifel-Dorf, wo sie Dir feierlich mitteilt: „Wir könnten doch Freunde bleiben!“. Ein vernichtender Schlag, der nur drei Tage später mit einem noch härteren Aufwärtshaken vollendet wird, wenn sie mit diesem anderen Typen über den Schulhof schlendert, der während Du in die Freundschaft einwilligen solltest locker an der Theke gelehnt hatte. 

Tut weh? Klar! Ist aber nur ein Fliegenschiss gegen den Schmerz eines Abstiegs! Denn selbst wenn sie Dich damals noch so niederträchtig verstieß, verließ oder demütigte, war ja immer noch Alemannia da und blieb. Denn noch heute, so viele Jahre nach all diesen stinkenden Partyzelten, klebrigen Teenager-Deos und vermeintlich großen Lieben zu Mädchen, die als Frauen hoffentlich von Übergewicht und Zellulitis gezeichnet wurden, gilt: Alemannia konnte und kann Dich nicht verschmähen, wird Dir keine heuchlerische Freundschaft anbieten während Du selbst doch eigentlich nur Zungen verknoten möchtest und sie kann Dich auch nicht verlassen. Alles was sie Dir antun kann ist abzusteigen. Und das ist schlimmer als jede andere Form der Zurückweisung.

Als ich noch selbst spielte bin ich nie abgestiegen. Ich spielte einfach zu niedrig dafür, ein unschlagbarer Trick. Und es ist irgendwie eine Laune der Zeit, dass Alemannia derzeit den gleichen Kniff anwendet. Denn in Zeiten, in denen in den Ligen unter uns – herzlichen Gruß nach Düren – niemand aufsteigen kann, ist auch schon mal eine Saison wie diese erlaubt, ohne Angst vor dem Festzelt des Abstiegs haben zu müssen. Tja – es ist wohl nicht alles schlecht in Zeiten von wütenden Pandemien. 

Die Frage bleibt allerdings, wie alles hätte anders verlaufen können an diesen Nachmittag in der Allianz Arena und an all diesen Sonntagnachmittagen davor, als nichts und niemand helfen konnte und Alemannia sich für nun schon fast ein Jahrzehnt aus dem Fußball verabschiedete, der sie jahrelang erklärte: Zweite Liga. Sie fehlt mir seitdem sehr, Alemannia in der zweiten Liga – gerade in Zeiten in denen spanische Baulöwen mit italienischen Autobauern und nahöstlichen Staatsdienern sogenannte Super-Ligen planen, in denen sich nur noch die treffen, denen das Spiel so viel bedeutet wie eine 5-Euro-Note. Im Grunde war diese Liga immer so etwas wie ein Schlupfwinkel für mich, ein Zufluchtsort an dem man die unerträgliche Doppelmoral des kommerziellen Champions-League-Champagner-Fußballs genauso entrüstet von sich weisen konnte wie die Bedeutungslosigkeit und Tristesse der Regionalliga West. Ich hatte doch eigentlich alles getan, um sie nicht zu verlieren. Scheiss Voodoo-Puppe!

Dieser Text erschien im Tivoli Echo anläßlich des Alemannia Heimspiels gegen die Sportfreunde aus Lotte, das bereits nach 15 Minuten verloren war.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker