Schnurrbart-Dämmerung
Es ist mittlerweile satte und ein bisschen beängstigende drei Jahrzehnte her, dass in der Nähe von Herzogenrath Steine über den Grenzwall auf die niederländische Seite und von dort aus zurückflogen, weil ein paar Männer mit schlechten Frisuren und Schnurrbärten gegen andere Männer mit Rasta-Locken und ähnlich schlechten Schnurbärten gewonnen hatten. Ich mochte diese Schnurrbart-Männer, nein mehr als das: Es war als würde ich sie persönlich kennen und wenn ich ihnen beim Kicken zusah, war es ganz so, als würde ich an ihrer Seite spielen. Bevor ihre Spiele angepfiffen wurden, hatte ich feuchte Hände und Gänsehaut im Nacken. Wenn sie gewannen, wie in diesem Spiel im Sommer 1990 in dem gespuckt, gekratzt und verbissen gekämpft wurde, dann empfand ich ein derart tiefes Glücksgefühl, das heute nicht mal schwedische Top-Models an guten Tagen simulieren könnten. Als sich die Weltmeister-Mannschaft von 1990 in diesen Tagen noch einmal zu einem Jubiläum in der Toskana traf und anschließend ein Team-Foto durch die sozialen Netzwerke jagte, blieb ich für eine ganze Weile gedankenverloren an dem Bild hängen. Ich ging Spieler für Spieler durch und klickte mich anschließend auf youtube durch all ihre Spiele aus diesem italienischen Sommer. In Aachen und Umgebung waren die Jungs um Franz Beckenbauer damals bitter nötig. Denn Alemannia hatte sich gerade mit fliegenden Fahnen aus dem Profifußball verabschiedet, weil selbst der türkische Beckenbauer das nicht hatte verhindern können. Es begann seinerzeit eine neun Jahre wehrende trostlose Dürre rund um den Tivoli. Da war es gut, eine kleine Ersatzdroge zu haben, die sich ab und an mit Holländern, Engländern oder Argentiniern epische Schlachten lieferte.
Als ich vorgestern den Fernseher einschaltete, um mit meinen Jungs Günther Jauch dabei zuzusehen, wie er die Nachfolger von Matthäus, Völler & Co. zu quizz-technischen Höchstleistungen zu jazzen versuchte, wurde mir auf ganz bittere Weise vor Augen geführt, dass 1990 genau die dreißig Jahre her ist, die es eben her ist – in jeder Beziehung. Da saßen farb- und humorlose Kicker in schwarzen Klamotten und weißen Schuhen, die belanglose Fragen um korrekten Flaschenpfand, kettenrauchende Monarchen oder Sonnenbrille tragende Rapper beantworten mussten und dazu alle Nase lang die eigentlich am heimischen Herd vor sich hin kochende Barbara Schöneberger als Telefon-Joker anriefen. Hinter ihnen saß der Mann, der das ganze Desaster nur vordergründig listig eingefädelt hatte und mit jeder Frage, mit jeder Wissenslücke und nichtssagenden Floskel seiner Spieler und mit jeder Minute, die es dauerte, immer bangender dreinschaute. Ich schaltete ab noch bevor er selbst an der Seite des dritten Torhüters auf den Quiz-Stuhl kletterte und beschloss „Die Mannschaft“ ab sofort mit etwas zu belegen, das ich „Der Boykott“ nenne.
Trotzdem versuchte ich eine zarte Umdeutung der Ereignisse, nur um allem so etwas wie einen Sinn zu geben. Ich redete mir ein, dass all das ein Zeichen sei – von wem auch immer. Vielleicht wiederholte sich ja das, was 1990 geschah – die Nationalmannschaft als Ersatzdroge für eine sich im freien Fall befindliche Alemannia – in diesen Tagen, nur umgekehrt. Denn während Niklas Süle wahrscheinlich immer noch fleißig das Wörtchen „Monarch“ googelt und verzweifelt bei der Flaschenpost anruft, um zu erfahren wie viel Cent denn eine leere Bierflasche so bringt, fängt Alemannia so ganz klammheimlich an zu gewinnen und zwar mit Typen, die gar nicht mal so schlecht rüberkommen – jedenfalls im Vergleich mit den Großen der Branche. Ein vielversprechender A-Jugendlicher auf der Sechs, zwei hünenhafte Verteidiger im Zentrum, die dem Verein nun schon seit Jahren die Treue halten und endlich wieder Stürmer, die „knipsen“ nicht für einen Spieler aus den Neunzigern halten, den alle nur „Kalla“ riefen. Scheint eine gute Mannschaft zu sein, die sich da anschickt, eine deutlich bessere Saison zu spielen, als ihr das viele vorab zugetraut hätten.
Natürlich ist es bitter, dass die zart aufkeimende Euphorie derzeit auf dem Platz bleibt und nicht auf die Ränge übertragen werden kann. Leicht vorstellbar, dass sich in normalen Zeiten die Zuschauerzahlen dem Fünfstelligen nähern würden. Oder anders gesagt: Man würde empört vom Sofa aufspringen, wenn Günther Jauch die erlösende Werbepause ankündigt und rufen „Jetzt ist Schluss mit den Telefongesichtern da! Am Samstag geht´s zum Tivoli!“ Und ganz vielleicht hätten die Jungs da unten in schwarz und gelb dann auch noch einen Schnurrbart. Scheint nämlich ganz so, als würde ihnen so etwas ganz gut zu Gesicht stehen.
Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo zum Heimspiel der allmächtigen Alemannia gegen die Zwote von Schalke 04, das am 18.10.2020 stattfand.