Der langsamste Mensch der Welt

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 26.10.2020
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Der langsamste Mensch der Welt

Ich war nie schnell. Es gibt sogar eine große Zahl von Menschen, vor allem unter denjenigen die schon einmal mit mir auf dem Fußballplatz standen, die würden sagen: Ich war langsam – sehr langsam. Ob ich heute schnell oder langsam bin, kann ich gar nicht so genau sagen, da ich nicht mehr versuche schnell zu laufen. Es könnte aber sein, dass ich der langsamste Mensch der Welt bin. Denn manchmal, wenn ich in Eile bin und fünf, vielleicht sechs Meter zum Auto, an die Theke oder sonst wohin laufen muss, dann dämmert es mir, weil ich dann plötzlich in einer Zeitlupen-Wolke gefangen bin und die paar Meter wie in einem Wattebällchen laufe. In solchen Momenten erlebe ich so etwas wie die persönliche Definition des Langsamen.

Jahnwiese Köln, Treffpunkt der langsamen Menschen

Nur mein bester Freund Peter war noch langsamer als ich. Er würde das zwar vehement bestreiten und wir haben ein groß angekündigtes und sicher viel beachtetes Wettrennen auf der Süd-Kölner Metzer Straße leider nie durchgeführt, um es endgültig zu klären. Aber eigentlich war es auch offensichtlich. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, ich war schneller. Aber ich würde unbedingt sagen, ich war weniger langsam als er – genauso wie er das mit absoluter Schärfe und Überzeugung auch von sich behaupten würde. Es ist selten, dass sich zwei Menschen mit solch außergewöhnlichen Fähigkeiten – und sei es Langsamkeit – treffen, kennen und schätzen. Und es ist dann auch nur folgerichtig, dass sie dann herausfinden möchten, wer die Nummer 1 ist.

Im Grunde hätte nur noch Benny Auer an unserem Wettrennen teilnehmen können, ohne uns auf einer geraden Strecke zu überrunden. Vielleicht war Benny der Letzte der Langsamen im Profifußball. Wer sich heute Fußball anschaut, der sieht all die Sanés, Comans oder Mbappés, die über den Platz rasen wie Reiner Calmund an die Fleischtheke. Schwer vorstellbar, dass einer wie Auer da noch mithalten könnte. Oder einer wie Peter – der aber dafür das Spiel so viel mehr liebte als all diese verkappten Tempo-Fetischisten, die mehr darüber nachdenken, welche Sneakers sie als nächstes überziehen oder welchen Rapper sie in der Kabine auflegen. 

Weil wir das Spiel so liebten, mochten wir beide Benny Auer und schrieben uns launige WhatsApp-Nachrichten, wenn er auf dem Tivoli mal wieder traf. Peter mochte Alemannia im Grunde nur deshalb, weil ich sie liebte und warf mir auch nie vor, dass ich es mit seiner Borussia nicht ebenso tat. Trotzdem suchten wir immer nach Nahtstellen, die unsere Vereine verbanden. Vor allem Spieler, die für beide Vereine gespielt hatten, waren dabei ein solch wichtiges Verbindungsglied für uns. Kalla Pflipsen, wegen dem wir allen Fußballern über die wir in trinkfesten Nächten palaverten den Vornamen Kalla verpassten. Jan „Kalla“ Schlaudraff, dessen Wechsel nach Aachen er stets als eine unverzeihliche Sünde seiner Borussia bezeichnete. Oder eben Benny „Kalla“ Auer, der uns beiden vor allem deshalb so nah war, weil er unsere Geschwindigkeit in den Profifußball hinübergerettet hatte.

Traten wir an einem unserer regelmäßigen Fußball-Donnerstage im Schatten des Müngersdorfer Stadions selbst noch einmal gegen das runde Leder, blühte nicht selten der Auer-Flachs. Peter gab dabei nonchalant einen bestechend guten und überraschend souveränen letzten Mann. Noch heute bin ich überzeugt, dass er der letzte große Libero des modernen Fußballs war. Und während er dort glänzte, konnte ich nicht anders, als mich auf die Spielmacher-Position zu verlaufen. Dort gelang mir hier und da mal eine gute Drehung, ein passabler Steckpass oder ab und an sogar ein Tor – nie unkommentiert vom Libero, der aber am lautesten rief, wenn ich zum vergeblichen Sprint ansetzte. Dann, wenn ich wie in diesen Wattebausch gepackt hinter einem eigentlich sehr milde gespielten Ball hinterherlief, in meinem 66er-Weltmeister-Trikot auf dem der Name Hurst geflockt war. Zum Glück sah ich mir nie selbst dabei zu, wenn ich wirklich alles aus meinem Körper herausholte, um solch einen Pass zu erlaufen – die Arme mustergültig vor und zurück schwingend, mit jedem Schritt die Oberschenkel zum Zerplatzen anspannend und Zähne fletschend wie Stallone in Rocky 4 – alles nur um auf einer holprigen Wiese eine Flanke schlagen zu können, die in der Mitte mit hoher Wahrscheinlichkeit kläglich vertändelt werden würde. Und wenn ich sie trotz abschließender Grätsche – der übliche Verschleierungstrick der Langsamen – doch nicht erreichte, kam von weit hinten der kurze aber schneidende Ruf „Kalla Auer“, begleitet vom Gelächter aller Anwesenden. Ein leises Lächeln konnte auch ich mir nicht verkneifen, während ich mich auf den Oberschenkeln stützend von dieser körperlichen Grenzerfahrung zu erholen suchte.

Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo anläßlich des Alemannia-Heimspiels am 24.10 gegen Bergisch-Gladbach. Sie erinnert an den großartigen Peter Schmitz.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker