Der Traum von Nieselregen
Fußballromantiker sind die besseren Menschen. Sie gehen durchs Leben, getragen von der Erinnerung an seltene aber unvergessene Last-Minute-Siege, die ihrerseits durch häufige aber ebenfalls unvergessene Last-Minute-Niederlagen so besonders werden, dass man sein komplettes Leben ihnen und nur ihnen widmen möchte. Fußballromantiker verklären Regen zu Nieselregen, sehen in beinharten Vorstoppern und ihren stumpfen Blutgrätschen begnadete Künstler und ihre vollkommenen Kunstwerke. Fragt man sie nach den größten Momenten ihres Lebens, denken sie eher an ein Elfmeterschießen mit Benny Auer oder Kalla Pflipsen als an einen Whirlpool gefüllt mit lettischen Pornostars. Keine Frage: Fußballromatiker sind die besseren Menschen. Sie sind Träumer, die das Wundervolle in ganz normalen Dingen sehen. Sie zelebrieren Würste, lieben Schalensitze und haben eine fast zärtliche Beziehung zu überraschenden Steckpässen, zweifarbigen Vereinswappen, schwarzen Schuhen mit weißen Streifen oder strahlenden Flutlichtmasten in denen sich Regenfäden spiegeln.
In der letzten Woche verkündete Alemannia die Verpflichtung eines Spielers, der man unter normalen Umständen keine ganz große Aufmerksamkeit schenken müsste. Als junger Mann galt der neue Mann scheinbar als hoffnungsvolles Talent. Allerdings kickte er nacheinander sowohl für Schalke als auch für den BVB, was für Leute wie mich eigentlich ungefähr so vorstellbar ist wie eine Runde Skat mit Harry Potter und dem dunklen Lord. Wie auch immer: Der Blick in die Internet-Lebensläufe des jungen Mannes versprach zunächst ebenfalls wenig Erbauliches für seine und meine Aachener Zukunft. Denn nach diesem verwirrten ruhrpottlichen Vereins-Ping-Pong wechselte Oguzhan Aydogan zu Besiktas Istanbul und blieb dort offenbar ebenso mäßig erfolgreich wie beim Karlsruher SC. Gründe genug eigentlich, seine überraschende Verpflichtung der doch eigentlich so klammen Alemannia mit einem beiläufigen Achselzucken hinzunehmen – wäre da nicht ein kleines entscheidendes Detail in seinem Werdegang gewesen, die mich innerhalb von Sekundenbruchteilen komplett elektrisierte. Fußballromantiker sind bessere Menschen! Und deshalb ist Oguzhan Aydogan nicht mehr nicht weniger als ein Jahrhundert-Transfer. Warum? Na, der Mann hat das Fußballspielen beim TSV Marl-Hüls gelernt. Geht mehr? Nein, mehr geht nicht! Wisst Ihr noch? „Wir brauchen keinen Seeler, keinen Brülls, denn wir kaufen alle Spieler bei Marl-Hüls, und wenn wir auch verlieren, nur das eine bleibt besteh´n: Alemannia Aachen wird nicht untergeh´n!“ Eine Station, ein Lied und schon wird der ganz normaler Transfer eines eigentlich vereinslosen Spielers zu einem in Öl gemalten Wechsel mit ganz ganz viel Zukunft auf dem Etikett. Mit einem Mal siehst Du den jungen Uwe Seeler in einer großen Gedankenblase über Deinem Kopf – ähnlich der von Homer Simpson, wenn er überlegt in einen Donut zu beißen oder es lieber sein zu lassen. Und plötzlich denkst Du: „Pfft – wer ist schon Seeler? Und wer zum Geier ist Brülls? Wenn Du dafür einen Aydogan haben kannst?“
Innerhalb von Sekunden freust Du Dich darauf, schnell den Impfstoff zu erfinden, damit Du eher heute als morgen dem Jungen aus Marl-Hüls bei Nieselregen in nassen Schalensitzen dabei zusehen kannst, wie er für Alemannia spielt, nachdem vor dem Spiel die Zeilen über seine Heimat von gut 30.000 Leuten im natürlich ausverkauften Tivoli intoniert wurden. Keine Frage – Fußballromantiker sind bessere Menschen. Das waren sie immer. Gerade leben sie in schwierigen Zeiten. Denn im Fernsehen läuft das große Spiel einfach ohne sie weiter. Die Flutlichtmäste strahlen ohne sie. Niemand brät Bratwürste für sie und niemand grätscht nur für sie über eine kreidige Linie auf irgendeiner verregneten Grasnarbe. Und doch gibt es immer wieder kleine Hoffnungsschimmer für sie – Oasen der Hoffnung auf bessere Zeiten. Dann verlieren sie sich in blühenden Tagträumen auf bessere Zeiten, in denen sie voller Ekstase aus ihrem Schalensitz aufspringen, weil einer aus Marl-Hüls, einer von ihnen, in der 93. Minute ins Tor trifft zum nicht mehr erwarteten Heimsieg. Come on, Oguzhan Aydogan – Du Jahrhundert-Transfer! Du Nieselregen!
Diese Kolumne erschien anläßlich des Heimspiels der wunderbaren Alemannia aus Aachen gegen Fortuna Köln am 18. November 2020 im Tivoli Echo.