Nur einen Schritt entfernt

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 27.04.2020
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Nur einen Schritt entfernt

Als die deutsche Elf am 29. Juni 1986 in Mexico City auf Argentinien trifft, ist es zwölf Uhr Ortszeit. In der Hauptstadt Mexikos ist der Schatten zu dieser Uhrzeit in etwa so spärlich, wie der Stoff der heruntergezogenen grünen DFB-Stutzen auf den massiven Waden des Hans-Peter Briegel. Die „Walz von der Pfalz“ war unterwegs in Lateinamerika, und wer die typische Witterung in Rheinland-Pfalz kennt, der kann sich vorstellen, wie schwer es für ihn gewesen sein muss, auf 2.500 Metern Höhe ein WM-Finale zu spielen. Keine Frage: Briegel muss sehr müde gewesen sein, als es fünf Minuten vor Schluss auf Biegen und Brechen um den Titel ging. Deutschland hatte trotz dieser Bedingungen einen 0:2 Rückstand aufgeholt und Diego Maradona und die Seinen am Rande der Verzweiflung.

Die Folge war purer Übermut einer Mannschaft, die mit Leuten wie Norbert Eder, Ditmar Jakobs oder Karl-Heinz Förster eher rustikal besetzt war. Denn plötzlich glaubten diese Mensch gewordenen deutschen Tugenden, Maradonas Argentinien in Grund und Boden spielen zu können. Ein fataler Irrglaube, den Maradona mit einer einzigen Drehung, einem einzigen Pass bestrafte, mit dem er Jorge Burruchaga auf die Reise in Richtung Toni Schumacher schickte – ganz alleine. Zu Hause an den Bildschirmen erreichte ein gequältes Stöhnen von TV-Kommentator Rolf Kramer die Wohnzimmer der Republik. Niemand im deutschen Team schien mehr die Kraft zu haben, sich auf die Jagd nach Burruchaga zu machen. Keiner? Doch! Einer! Hans-Peter Briegel, der sein letztes Länderspiel bestritt, setzte zu einem der epischsten Sprints an, die je ein WM-Finale gesehen hat. Ein Sprint, bei dem die gigantischen Oberschenkel Briegels bei jedem Meter zu platzen schienen. Mexiko City schien sich um Hans-Peter Briegel zu drehen und das unruhige Treiben im Aztekenstadion für einen Moment stillzustehen. Briegel schien die Zeit selbst zu überholen. Als der Argentinier schon den Kopf hob, um Schumacher auszugucken, und Kramer ein beschwörend flehentliches „Burruchaga“ über den Äther in die Heimat schickte, kam ihm die „Walz aus der Pfalz“ tatsächlich so nah, dass er die rechte Hand an den Oberkörper des Schützen brachte. Was für ein Lauf, was für ein Kraftakt! 

Und was für eine Tragödie! Denn Briegel kam zu spät – vielleicht eine Zehntel Sekunde, vielleicht weniger. Und doch – er kam zu spät. Burruchaga schob den Ball mit letzter Kraft in Richtung Schumacher. Kramer schrie laut auf – eine für die Kommentatoren der Achtziger fast unerhörte Gefühlswallung: „Toni – halt den Ball!“, um gleich danach ein resigniertes „Nein!“ hinterher zu hauchen. Toni hielt den Ball nicht. Briegel stand am Pfosten  – mit hängendem Kopf, auf den die Sonne Mexiko Citys unbarmherzig einbrannte. Der Titel war verloren. Das Spielfeld war ein Stück zu kurz gewesen – nicht viel, nur ein paar Zentimeter. Im Interview nach dem Spiel weinte er am Mikrofon des ZDF. Unsterblich!

Dieser Text über Hans-Peter Briegel – die Walz aus der Pfalz – wurde auf einer TORWORT-WM-Lesung 2014 gelesen. Zudem ist er Teil des Buches „WM-Helden“, das man hier bestellen kann.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker