Ein weiter Weg
Kurz vor der Sommerpause bekam ich über Facebook eine Nachricht von einem gut gelaunten Alemannen, der mich um Zusendung meines Buches bat. Meine Bücher stünden nun schon so lange erfolglos auf seinem Wunschzettel, dass es ihm jetzt ihm zu bunt würde. Mit dieser Nachricht nähme er das jetzt selbst in die Hand und bestelle gleich alle gesammelten Werke. Ich war durchaus geschmeichelt, denn ich kannte den Mann nur von Fotos, die er ab und an teilte. Denen zufolge schien aber klar, dass er bei Fußball und bei Alemannia keine großen Kompromisse einging. Das gefiel mir, weshalb ich oft und konsequenterweise auf „Gefällt mir“ klickte, wenn er knappe Heimsiege bejubelte oder klare Niederlagen beklagte.
Ich packte ihm ein Buch-Paket und versuchte mich in virtuellen Small Talk. Nach ein bisschen Alemannia Trash und den in solchen Fällen unvermeidlichen Prognosen zur neuen Saison schloss ich damit ihm viel Lese-Spaß zu wünschen. Ich war zufrieden mit mir und der Welt. Seine Antwort holte mich schmerzhaft dahin zurück, wo das wahre Leben spielt. Denn der Mann, den sie, wie er nicht ohne Stolz bemerkte, „Balu“ riefen, sprach davon, dass er hoffe mit den Büchern besser durch die nächst Chemotherapie zu kommen. „Verdammte Scheiße“, dachte ich und wünschte ihm gleich nur das Allerbeste. Was zum Geier war Alemannia und das, was sie vielleicht nächstes Jahr erreichen konnte gegen so eine Bemerkung, die mal eben den Kampf um Leben und Tod ausrief. Nachdenklich blieb ich zurück und war extrem beeindruckt vom Balus Kampfgeist. Denn der schrieb: „Humor und gute Laune sind die beste Medizin. Wird aber noch ein weiter Weg.“ Zudem kündigte er gleich noch an, selbst ein Buch über seinen schweren Kampf zu schreiben, wenn er ihn denn am Ende gewänne. Nun hatte ich Tränen in den Augen und wusste nicht mehr so recht, was ich schreiben sollte, außer, dass ich dieses Buch gerne lesen würde. Daneben versuchte ich es mit einer Mut machenden Widmung in den Büchern und sagte mir selbst wohl auch zur Beruhigung, dass er es sicher schaffen würde. Kurze Zeit bekam ich noch einmal eine Nachricht von ihm. „Die Bücher sind da und die nächsten Chemos gerettet“, schrieb er und setzte eines dieser lachenden Gesichter aus Doppelpunkt, Punkt und Klammer dahinter.
Leider retten die Chemos Balu nicht. Ein paar Wochen später erfuhr ich von seinem Tod über Umwege. Traurig dachte ich an ihn und surfte gedankenverloren über sein Facebook-Profil. Ich hatte ihn nie getroffen, wusste aber, dass ich ihn mochte. Auf fast allen Fotos spielte Alemannia irgendeine Rolle und am meisten blieb mir dieses Jubel-Foto in Erinnerung, als er direkt am Spielfeldrand auf den Knien rutschend ein Tor feierte. Je länger ich mir das Foto anschaute, desto mehr Hingabe und Leidenschat sah ich – all die Eigenschaften, die ich an Fußball und der Liebe zu diesem Spiel am meisten mag. Balu schien alles davon zu haben. Es war seltsam, aber er fehlte mir, obwohl ich nie mit ihm sprach.
Letzte Woche erfuhr ich nun von einer beeindruckenden Aktion der Leute, die ihn ganz offensichtlich öfter sprachen, nämlich immer dann, wenn Alemannia spielte. Sie schrieben von einem Jutebeutel, den Balu wohl immer zu den Spielen am Tivoli mitbrachte und aus der er bereitwillig Bitburger-Flaschen unter Gleichgesinnten verteilte. Rund hundert solcher Jutebeutel haben sie besorgt und sie mit dem auf den Knien jubelnden Balu bedruckt. Zum ersten Saisonspiel werden sie genau dort verkauft, wo er selbst sie immer verteilte. Der Erlös geht an Balus Familie. Eine edlere Aktion kann ich mir kaum vorstellen und wenn ich an seine wenigen Nachrichten denke und an sein jubelndes Gesicht – dann weiß ich, wie glücklich er wäre, wenn er davon wüsste.
Ich kann nicht dabei bin, wenn sie Balu am Freitagabend gedenken. Ich verpasse das erste Saisonspiel, weil ich ihm Urlaub bin und diese Zeilen irgendwo über den Wolken schreibe. Aber jetzt wo ich sie schreibe, wird mir zum wiederholten Mal klar, wie egal es ist, wie dieses erste Spiel der Saison ausgeht. Mir wird aber auch klar, wie wichtig Alemannia ist – wie wichtig es ist, dass es einen Ort gibt an dem man auf den Knien rutschend Tore bejubelt, an dem man Bitburger-Flaschen kreisen lässt und an dem man sogar Chemotherapien vergisst. Und dann denke ich, dass ab sofort jedes Spiel in dieser Saison Jürgen Pieper gehören sollte – den alle nur Balu nannten. Ruhe in Frieden. Es wird ein weiter Weg ohne Dich.
Diese traurige Kolumne erschien im Tivoli Echo zu einem bedeutungslosen Spiel gegen Borussia Mönchengladbachs Zweite im Juli 2017.