Ein Nachmittag mit Patrick Milchraum

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 16.08.2019
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Ein Nachmittag mit Patrick Milchraum

Wir saßen in diesem Berliner Club irgendwann spät in der Nacht. Und weil wir, dem Anlass völlig angemessen, schon viel zu viel Bier getrunken hatten, waren wir auf Jägermeister umgestiegen, was wir am nächsten Tag zwar bereuten, jetzt in diesem Moment aber nicht infrage stellten. Alemannia grüßte vom Höhepunkt. 25.000 Aachener hatten das Olympia Stadion in Berlin verzaubert und es fühlte sich nie wieder so gut an, ein Alemannia Trikot zu tragen als hier in Berlin, in dieser Nacht, Ende Mai. Irgendwann setzte sich jemand zu uns, der zu Protokoll gab Union-Fan zu sein und das Spiel ebenfalls im Stadion gesehen zu haben. Er gratulierte uns zu dem Erlebnis und berichtete davon, wie viele Kinder und Jugendliche er im Stadion und auf dem Heimweg in der Bahn gesehen habe und dass ihn das sehr beeindruckt hätte. Bevor er nach kurzem Monolog wieder aufstand und ging, klopfte er uns väterlich auf die Schulter und gab uns fast beiläufig einen Satz mit, der schnell im Jägermeister-Nebel wieder in Vergessenheit geriet. „Die verliert Ihr nie wieder!“

Letzten Samstag musste ich wieder an diese Gestalt denken, die diese Nacht in Berlin damals ausgespuckt hatte. Als Alemannia nach so vielen Jahren endlich mal wieder im DFB Pokal spielte und das auch noch vor mehr als 30.000 Menschen tat, schien es fast als flüstere er mir noch einmal leise ins Ohr. Denn während sich im grauen Liga-Alltag, der uns mittlerweile unbarmherzig eingeholt hat, zwar immer noch respektable fünf- bis sechstausend Menschen für Alemannia interessieren, kamen dieses Mal endlich wieder all die Menschen zum Tivoli, die ansonsten eine Pause eingelegt haben. Sie alle kramten Trikots aus dem staubigen Schrank des verblassten Ruhms, die sie deutlich nach Epochen einzuordnen ließen. Viele von ihnen waren zu jung für sie, was den romantischen Schluss zuließ, dass sie von ihren Vätern vererbt waren.

Unten an der Wurstbude, wo so viele Bratwürste wie seit Jahren nicht gegrillt wurden, bestellte neben mir Stefan Blank eine solche mit Brötchen und Senf. Auf dem Weg zum Spielfeld hoch mühte sich vor mir ein Alemanne die Treppe hoch, der eigentlich viel zu schlank für ein Patrick-Milchraum-Trikot war. Und ein paar Reihen vor mir ereiferte sich über die vollen 90 Minuten ein vielleicht zwanzigjähriger Kai Michalke über die aus seiner Sicht zu kleinliche Auslegung des Regelwerks durch den Schiedsrichter. Neben Michalke, Blank und Milchraum sah ich an diesem Samstag noch zahlreiche Landgrafs und Meijers jeden Alters, zwei bis drei Lämmermanns, einen betagten Vanderbroek sowie hier und da einen Jovanovic, einen Schmidt, einen Klitzpera oder einen Sichone. Bei weitem war das nicht alles, denn nicht alle Trikots aus den guten alten Zeiten waren mit Spielernamen beflockt. Dafür waren sie allesamt ein starkes Statement für die Tage, in denen Alemannia so angesagt war, wie schwedische Fotomodelle in Liebesgrotten von Playboy-Gründern. 

Irgendwie habe ich mich gefreut, sie alle zu sehen. Denn sie waren der lebende Beweis dafür, dass diese Zeit damals ein bisschen mehr übriggelassen hat als nur die blanke Erinnerung an diesen oder jenen Heimsieg. Und als Alemannia nach dem Anschlusstreffer für gut zehn bis fünfzehn Minuten auf mehr drängte als auf einen schönen Nachmittag, da war es, als wollten all die Milchraums, all die Meijers und all die Lämmermanns, das Leder mit Gewalt mit ins Tor tragen. Sie hätten es verdient gehabt – alle anderen sowieso.

Klar – man könnte nun kritisch einwerfen, dass sie alle fehlen, wenn es wie heute gegen Haltern oder wie morgen gegen Hintertupfingen geht. Das wäre auch gar nicht mal falsch. Denn neben sonnigen Pokalspielen gegen Champions League Teilnehmer sind es doch vor allem diese Spiele, in denen es darum geht in jeder Hinsicht in die Bedeutung zurückzukehren und all den Hackenbergs, Fiedlers und Batarilos die Chance zu geben in ähnliche Sphären aufzusteigen wie ihre großen Vorgänger. Und trotzdem sollte man es ihnen, wenn überhaupt nur hauchzart unter die Nase reiben. Denn wenn dieser Pokal-Samstag noch mehr als verklärte Blicke, große Hoffnung und wilde Träume gebracht hat, dann doch die viel wichtigere Erkenntnis, dass nicht alles verloren sind. Vielleicht müssen all die abhanden Gekommenen ab und an nur mal wieder an Alemannia erinnert werden – denn – wie gesagt – verloren sind sie nicht. Ganz so, wie es dieser Union-Typ damals prophezeit hatte, in diesem Club irgendwo in Berlin. 

Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo zum Spiel gegen den TuS Haltern im August 2019

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker