Mario Krohm – selbst geboren…

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 05.03.2020
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Mario Krohm – selbst geboren…

Der Mann, der da stand, war einer jener Männer, die sich in einem beispielhaften Akt der Liebe selbst zeugen. Der Mann, der da stand, dirigierte zirka 9.000 andere Männer, die größtenteils betrunken waren. Sie jubelten ihm zu, dem Mann, der sich selbst geboren hatte. Und wie er da stand, auf dem Rasen des ehemaligen Ulrich-Haberland-Stadions in Leverkusen: in seinem gelben Trikot mit gezackten Schattenstreifen und diesem Schriftzug „Hannen Alt“ auf der Brust. Er hielt eine Eckfahne in seiner rechten Hand, die er stolz in Richtung Fankurve schwenkte. Keine Frage – wenn es je einen homoerotischen Moment in meinem Leben gegeben hat, dann war es dieser hier. In diesem Moment hätten wohl 9.000 Menschen mit Mario Krohm geschlafen. Was war passiert? Mario Krohm hatte es uns allen besorgt und gegen die Zweite Mannschaft von Bayer Leverkusen ein Tor geschossen; in einem Spiel, das mehr als das Leben selbst bedeutete. Es war ein Spiel, das die Weichen dafür stellte, dass Alemannia Aachen nach neun Jahren beinharter Drittklassigkeit schließlich den Aufstieg in die zweite Liga schaffte. Ein Moment, den Captain Kirk „den Nexus“ nennt. Und wenn endlich jemand mal das Holodeck erfindet, dann, so viel ist klar, wird es dieser Moment sein, zu dem ich als Erstes reise. „Computer – Mario Krohm, April 1999, Leverkusen, Haberland. Programm starten!“

Manchmal kann man nicht erklären, warum man seine Gunst ausgerechnet einem einzigen und nur diesem Spieler schenkt. Bei Karl-Heinz Rummenigge und Dieter Müller, meinen Helden vor Mario Krohm, lag der Fall klar auf der Hand: mehrfache Nationalspieler, die regelmäßig das „Tor des Monats“ schossen und dann gemeinsam mit Addi Furler, Ernst Huberty oder Klaus Schwarze drei Postkarten aus einem riesigen Haufen abertausender anderer zogen, um dem Gewinner mit zwei Eintrittskarten für das nächste Länderspiel zu belohnen. Mein Rekord beim Einsenden von Postkarten beim „Tor des Monats“ lag seinerzeit übrigens bei 16, die ich teilweise unter meinem Namen und teilweise unter denen meiner Verwandten abschickte. Ich weiß nicht, wie oft meine alte und trinkfeste Tante Betty erfolglos am „Tor des Monats“ teilgenommen hat, obwohl sich ihr Fußballverstand darauf reduzierte, grundsätzlich jedes Spiel mit einem 2:1-Tipp zu versehen. Gewonnen hat sie beim „Tor des Monats“ genauso wenig wie ich oder irgendein anderer aus meiner Familie – die wir aber dafür allesamt im Tippen gegen Tante Betty verloren. Aber das ist eine andere Geschichte. 

Jedenfalls waren Rummenigge und Müller Stars, die kicken konnten. Das konnte Mario Krohm nicht, und er lernte es auch nie. Mario Krohm hatte zwei Füße wie Flipperhebel. Wenn er den Ball stoppte, bedeutete das, dass er ihn gleich im Anschluss mit einem entschlossenen Drei-Meter-Sprint erst einmal wieder sichern musste. Wenn er einen Pass spielte, war der eigene Mitspieler oft gezwungen, die Richtung zu antizipieren. Wenn Mario Krohm eine Torchance witterte, war sie nicht selten auch schon wieder vorbei. Und trotzdem war er mein Mann, was an Szenen wie der in Leverkusen lag, mit der Eckfahne in der rechten Hand. 

Oder an Spielen wie gegen Eintracht Trier, als er infamerweise von Trainer Werner Fuchs erstmals auf das harte Holz der Ersatzbank verbannt worden war, nicht von Anfang an spielen durfte, dann aber heiß wie Frittenfett ins Spiel kam und das Spiel bei strömendem Regen mit einem Gewaltschuss, den ich in ähnlicher Form nie wieder gesehen habe, entschied. Wildfremde Menschen lagen sich anschließend in den Armen und feierten den Mann, über den sie sonst die Haare rauften

Auch Momente wie jener in der Dürener Provinzdiskothek Atlantis, wo wir ihn einmal an einem Samstagmorgen um fünf Uhr an der Theke trafen, trugen nicht unwesentlich zu unserer Verehrung für Krohm bei. Dort im Atlantis sprangen wir uns gegenseitig selig in die Arme, als wir das schmeichelhafte Kunststück fertiggebracht hatten, seiner Frau Pia die Zigarette anzuzünden. Hey, wir hatten der Frau von Mario Krohm eine Zigarette angezündet! Wir hatten der Frau eine Zigarette angezündet, die Mario Krohm morgens das Müsli und abends die Nudeln servierte! Das war beinharter Rock’n’Roll! Was für ein Moment, als wir mit Mario Krohm in den Morgenstunden an der Theke standen und sein Spiel interpretierten, ihm dabei ein Bier nach dem anderen ausgaben und ihn allen Ernstes fragten: 

„Mario – was können wir sonst noch für dich tun?“ 

Seine Antwort war die eines Fußballprofis und trotzdem bis in die letzte Pore philosophisch: 

„Ihr müsst mich weiter unterstützen!“ 

Was für ein Satz! „Ihr müsst mich weiter unterstützen!“, ist vielleicht das Beste, was ich je im Zusammenhang mit Fußball gehört habe.

Ich weiß nicht, ob er das gesagt hätte, hätte er gewusst, dass wir die Typen waren, die eine ganze WG-Party in Aachen, bei der Fladenbrote mit Zimmermannsnägeln in die Wand genagelt worden, damit zugebracht hatten, vom Telefon der Gastgeberin aus den größten Blech auf seinen Anrufbeantworter zu sprechen. Zu viert saßen wir um das Telefon herum und wählten immer und immer wieder Mario Krohms Nummer, um ihm Dinge aufs Band zu sagen wie: „Mario – du musst den Fußball atmen!“ oder „Mario, du bist für uns eine Religionsperson!“

Viel später spielten wir dann tatsächlich selbst einmal mit Mario Krohm Fußball. Anlässlich meines Junggesellenabschieds kam es zum großen Spiel, und im Sturm spielten Sascha Theisen und Mario Krohm, gemeinsam. Die Jungs hatten ihn irgendwie davon überzeugt, und tatsächlich war er gekommen. Wir spielten ein unvergessenes Spiel. Unsere Mannschaft machte zwei Tore – eines Krohm, Vorarbeit Theisen, eines Theisen, Vorarbeit Krohm. Noch auf dem Platz wurde mir klar: Mehr kannst du im Leben nicht erreichen!

Ganz großes Kino war seinerzeit die Spielszene, als mein bester Kumpel Lars Halbey am Mittelkreis den Ball führte, Mario Krohm von hinten angestürmt kam und ihm, seinem Mitspieler, zurief: „Lass ihn liegen, lass ihn liegen!“ Lars zuckte, dachte aber wohl, dass der ehemalige Profi einen Plan hätte. Hatte er aber nicht. Denn als Lars „ihn liegen ließ“, ballerte Mario Krohm den Ball von der Mittellinie auf direktem Weg und wie an der Schnur gezogen an die rechte Eckfahne. 

„Ihr müsst mich weiter unterstützten!“, hatte Mario Krohm gesagt, und das taten wir – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und rückblickend ist es dieser Satz, der alles erklärt. Ich gehe ins Stadion, um Mario Krohm und die, die ihm folgen, weiter zu unterstützen. Und ich weiß: Wenn ich es nur lange genug und klaglos weiter tue, dann steht irgendwann und eines Tages wieder jemand stolz vor Fankurve, die Massen dirigierend, mit der Eckfahne in der rechten Hand. Jemand, der sich selbst geboren hat. 

Dieser Text gewann bei einem Autoren-Wettbewerb der 11Freunde einen Rollkoffer.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker