Schmidt happens!
Es war eine dieser Partys bei denen Fladenbrot mit Zimmermannsnägeln an die Wand genagelt wurde. Morgens um halb vier schlug noch jemand ein Fass an und niemand hielt das für eine schlechte Idee. Doktor Körner, der kein Doktor war, aber von jedem so genannt wurde, trank ein Glas Wurstwasser, einfach weil er es konnte. Und die meisten Mädchen, die noch übriggeblieben waren, waren nicht das, was mein Onkel Dieter als „sauber Mädchen“ bezeichnet hätte. Ich lehnte in schlechten Klamotten in einem Türrahmen, schmachtete von dort aus das einzige saubere Mädchen der Party an, redete währenddessen aber mit meinem besten Freund Lars über Frank Schmidt. Im Hintergrund lief Pearl Jam „State of Love and Trust“, der vielleicht besten Song der Neunziger. Und just als sie von der anderen Seite der Wohnung tatsächlich in meine Richtung guckte und ich eigentlich zu ihr hätte rübergehen müssen, nahm die ganz Sache Fahrt auf – die Sache mit Frank Schmidt.
Frank Schmidt war Libero der Alemannia. Eine Viererkette kannte in Deutschland zu der Zeit nur Ralf Rangnick und bei Alemannia sowieso niemand. Ich mochte die Position des Libero seit ich ein Kind war, denn ich hatte sie mal in der D-Jugend eine halbe Saison spielen dürfen. Dabei waren zwei meiner besten Jugendspiele herausgesprungen, bevor ich letztendlich auch auf dieser Position den Touch verlor. Als Libero musste man nicht viel laufen, bügelte mit zwei Metern Vorsprung auf den Stürmer per aufwändiger Grätsche den Fehler seines Vorstoppers aus, schaute dabei grimmig und dirigierte ansonsten von hinten heraus den Rest. Was für ein Leben! Genau so habe ich mich seitdem immer gesehen, auch wenn es selten noch einmal so gelang wie damals in der D-Jugend – im Fußball wie im Leben. Aber das ist eine andere Geschichte – zurück zu Frank Schmidt, der die meiste Zeit seines Lebens einen sehr passablen letzten Mann gab. Ich mochte ihn, weil ich eben Liberos mochte. Ich jubelte mit ihm, wenn er mit wuchtigen Kopfbällen nach Standards für Alemannia traf und ich litt mit ihm nach unvermeidlichen Gegentoren, die selbst er nicht verhindern konnte. Ich war bei ihm, wenn er dann konsterniert und in jeder Faser seines Körpers betroffen am rechten Pfosten lehnte, sich mit ausgestrecktem Arm am Pfosten abstützte und zu André Lenz rüber schaute, als wollte er sagen „Und jetzt?“. Ich liebte ihn, wenn er sich in solchen Momenten trotzdem wieder fing, begleitet von ersten zarten Aufmunterungen von den Rängen. Dann klatschte er in die Hände und schaute kurz so grimmig wie ich damals in der D-Jugend. Es wäre zu viel gesagt, dass ich mich in ihm wiedererkannte, aber eine gewisse, zumindest fußballerische Seelenverwandtschaft war aus meiner Sicht offensichtlich.
All das hätte ich jetzt auf der Party gerne diesem Mädchen am anderen Ende des Raumes erzählt. Allerdings lagen die Chancen nicht sehr hoch, dass sie das interessierte oder sie überhaupt wusste, wer zum Teufel Frank Schmidt und was eigentlich ein Libero sei. Der einzige Mensch auf der Party, der sich in gleichem Maße für Frank Schmidt interessierte wie ich, war Lars und der stand neben mir als er plötzlich rief: „Jetzt rufen wir ihn an! Ich muss ihm was sagen!“. Die beiden Sätze rissen mich aus meiner Lethargie. Ich schreckte auf, schaute zu ihm rüber, nahm kurz die Uhrzeit in den Blick und antwortete entschlossen: „Gute Idee!“ Da die Gastgeberin ihr Telefon noch nicht angemeldet hatte und Handys seinerzeit dem US-amerikanischen Militär vorbehalten waren, machten wir uns also mit vier Bier bewaffnet auf zur nächsten Telefonzelle. Zu dieser Zeit hingen reihenweise Telefonbücher in diesen gläsernen Boxen und in einem dieser Wälzer stand tatsächlich „Frank Schmidt“. Lars wählte die Nummer und wie durch ein Wunder war es der richtige Frank Schmidt. Der Libero selbst schlief, was um diese Zeit wiederum kein Wunder war. Dafür hob seine Frau ab. Lars hatte den Hörer, nahm einen tiefen Schluck und eröffnete mit dem Satz „Lassen Sie Frank bitte schlafen.“ Frau Schmidt lächelte das weg, was zeigte: Frank Schmidt hatte eines dieser sauber Mädchen erwischt, was mich jetzt leicht unruhig werden ließ. Musste ich nicht zurück? Lars legte nach. „Wir sind Schmidthappens! Sagen sie ihm das, wenn er morgen aufwacht. Wir rufen das ab sofort immer in jedem Spiel. Er soll darauf achten: Schmidthappens! Das ist wichtig!“ Frau Schmidt lachte wieder und versprach, es ihm zu sagen. Ich habe keine Ahnung, wie wir auf „Schmidthappens“ kamen, aber Lars erklärte das Konzept dahinter so schlüssig, als sei es eine Geheimformel für den Aufstieg.
Wir unterhielten uns noch gut 5 Minuten mit Frau Schmidt und waren bezaubert von ihr. Sie blieb freundlich, wünschte uns alles Gute und gab uns das Gefühl, dass dieser Anruf die absolut richtige Entscheidung gewesen sei. Glücklich und mit jeweils zwei leeren Gläsern gingen wir zurück zur Party. Statt Pearl Jam lief dort jetzt „Fury in the Slaughterhouse“. Und während im Hintergrund nun “This is not the time to wonder” hämmerte, scannte ich den Raum ab. Sie war nicht mehr da, was mich kurz traurig machte. Doch dann sah ich zum Fass, wo Lars Doktor Körner mit großen Gesten von unserem Telefonat erzählte. Ich lachte, riss mir ein Stück Fladenbrot von der Wand und klinkte mich ein. Von da an riefen wir in jedem Heimspiel, in dem Frank Schmidt den Platz betrat und immer dann, wenn einen Zweikampf gewann oder einen Kopfball nach einer Ecke versenkte: „Schmidthappens!“. Er fehlt mir, dieser Frank Schmidt!
Dieser Text erschien als Spieltagskolumne im Tivoli Echo der großen Alemannia aus Aachen gegen eine Mannschaft aus Wegberg-Beeck, die am Ende wohl eine Nummer zu groß sein dürfte – auch weil Frank Schmidt längst in Heidenheim wohnt.