Against all Odds

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 27.03.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Against all Odds

Als ich in diesen Tagen mal wieder auf den einschlägigen sozialen Plattformen meines Nicht-Vertrauens unterwegs war, stolperte ich zunächst etwas kopfschüttelnd über verärgerte Alemannen-Meinungen zum letzten Spieltag. Nach einem durchwachsenen Auftritt, aber immerhin einem Punkt in Rödinghausen wollten da einige Unken die Aufstiegsflinte gleich wieder ins Korn werfen. Nervte zwar kolossal, aber ich verstand es irgendwie auch, selbst wenn viele dieser Schwarzseher vor ein paar Monaten für drei Punkte Vorsprung auf den Tabellenzweiten sicher noch einen Becher Eiter getrunken hätten. Vielleicht kann man nach all den Jahren nicht anders, zu einmalig scheint die Aufstiegschance und zu viel hat man in all den Jahren schon erlebt. Alemannia ist ein hartes Brot – war Alemannia immer. Allerdings ist halt auch völlig klar, dass gerade solche Spiele in Orten mit Namen wie Rödinghausen, Marienborn oder weiß der Geier was im Ruhrgebiet noch vor einiger Zeit mit bestechender Präzision verloren wurden. Ich las also eher debil lächelnd über die Unkenrufe hinweg, eben wohlwissend, dass sie zum Fußball im Allgemeinen und Alemannia im Speziellen dazu gehören, wie die hohe Stirn zu Thomas Tuchel oder wie Alemannia zu Aachen, wobei letzteres in anderen Ländern gar nicht mal so selbstverständlich wäre. Das jedenfalls wurde mir ein paar Momente später bewusst, als ich mich weiter durch die soziale Gegend scrollte. Denn da wurde mir ein Tor in den Algorithmus gespielt, das so enthusiastisch gefeiert wurde, dass ich daran hängen blieb, um es mir genauer anzusehen.

Der FC Wimbledon war einst ein stolzer Club. Bereits 1889 gegründet, gewann er fast 100 Jahre später als einzigen Titel, den FA Cup in Wembley gegen den großen FC Liverpool. Nach dem Taylor Report Anfang der Neunziger musste der Verein aus seiner geliebten Plough Lane ausziehen. Die Sitzplätze reichten nicht aus, um dort weiter spielen zu dürfen. Es ging stetig bergab und 2003 war der Verein so bankrott, dass er von den gerade gegründeten Milton Keynes Dons kurzerhand übernommen wurde, einem Verein, der in einer echten Reißbrettstadt spielte und so viel Tradition besaß, wie – sagen wir mal – ein Verein, der gegründet würde, um Energy-Drinks aus Dosen zu promoten. Keine Frage: Das ist eine traurige Geschichte, die normalerweise in der großen Menge trauriger Fußballgeschichten verschwinden würde. In Wimbledon geschah aber etwas so Leidenschaftliches, das so nur im Fußball passieren kann. Die Fans des FC Wimbledon gründeten ihren Verein neu und nannten ihn den „AFC Wimbledon“. Es entstand also ausgerechnet in England, wo sich sonst zweifelhafte Staatsfonds, chinesische und amerikanische Business-Haie oder fragwürdige Oligarchen die Vereinswelt untereinander aufteilen, ein Club, der niemandem anders als den Fans gehörte. Zwar mussten sie ganz unten beginnen, aber es war ihr Projekt. Ich mag diese Geschichten, auch und gerade, weil sie so selten sind. Nun kam es am vergangenen Wochenende nach zahlreichen Aufstiegen in der Football League Two zum direkten Aufeinandertreffen des AFC gegen die MK Dons. Und da kommen wir zurück zu diesem Video, das eben die 94. Minute dieses Spiels und den letzten Angriff des Spiels dokumentierte. Kurz erzählt, landete der Ball nach einigem Wirr-Warr bei Wimbledon-Stürmer Ronan Curtis, der diesen trocken direkt vor den eigenen Fans mit der Innenseite ins lange Eck versenkte. 1:0, Heimsieg – einer der Sorte, die Du wahrscheinlich nur einmal im Leben geschenkt bekommst. Against all Odds. Die Szenen danach hatten alles, was Fußball ausmacht: Curtis lief in die völlig eskalierende Kurve, in der sich Menschen übereinander kugelten, in der Freudentränen liefen und Fäuste in den Himmel gereckt wurden. Er nahm einen kleinen Balljungen in die Arme, der seinen Stürmer völlig entrückt umarmte, bis alle Mitspieler und so viele dieser einzigartigen Fans ihn und Curtis unter sich begruben. Es war eine dieser Szenen, die Dir zeigen, warum Du das Spiel eigentlich so liebst und warum es so wunderschön ist. Seit Montag schaue ich das Video mindestens drei Mal am Tag.

Und hey – das sollten all die Unken, die ich so gut verstehen kann, auch tun. In diesem Jahr scheint alles möglich, für so viele Traditionsvereine. Und einer davon sind wir. Denn mal ehrlich: Wie oft fiel in Rödinghausen in der 92. Minute der Ball kurz vor der Torlinie ausgerechnet vor die Füße unseres Mittelfeldspielers? Wie oft bekamen wir und nicht die anderen den spielentscheidenden Elfmeter in buchstäblich letzter Sekunde? Und wie oft lagen wir zehn Spieltage vor Schluss mit drei vor? Ist lange her. Und auch wenn wir den Verein nicht gleich selbst gründen mussten, aber in Sachen Insolvenz macht uns nicht mal der FC Wimbledon irgendwas vor. Trotzdem sind wir dran. Da passt Schwarzmalerei in etwa so gut rein wie eine Dauerwelle auf den Kopf von Thomas Tuchel oder eben ein Reißbrett-Club ins Trikot des FC Wimbledon. Und eins ist auch sonnenklar: Dieses Tor schoss Ronan Curtis irgendwie auch für uns. Allen Unkenrufen zum Trotz. 

Diese Kolumne erschien anläßlich des Heimspiels der wunderbaren Alemannia aus Aachen gegen die Zwote von Fortuna Düsseldorf. Alemannia gewann nach großem Kampf 2:1 an diesem großartigen 8. März 2024.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker