Zeit für Träume

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 12.04.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Zeit für Träume

Vor kurzem war ich zum Familienurlaub an der holländischen See. Bisschen atmen, bisschen träumen, bisschen den Wellen beim Rauschen zuhören. Auf dem Weg dorthin fuhr ich, noch leicht im Arbeitsstress, am AFAS-Stadion der AZ Alkmaar vorbei. Die dortige Betonschüssel ist der etwas zu moderne Nachfolger des Alkmaarderhout, dem alten kleinen Schmuckkästchen des holländischen Traditionsvereins, in dem Alemannia einst ihre vorerst letzte epische Europapokalnacht erlebte. Irgendwie war allen im Auto klar, dass der alte Herr beim Anblick des Stadions im Auto einen astreinen Spielbericht des damaligen Spiels aus dem Februar 2005 zum Besten geben würde – klarer Fall von Schlüsselreiz. Zumindest meinen Jungs gefiel das auch. Ich erzählte also gestenreich von Erik Meijers Kopfball nach Pintos Ecke, vom Platzverweis der Axt zehn Minuten nach dem Ausgleichstreffer und von Simon Rolfes alleinigem Lauf auf den Torwart des AZ Alkmaar zu, als von Ausgleich und späteren Siegtor Alkmaars noch keine Rede war. Ich trauerte noch einmal der vertändelten Entscheidung durch Rolfes Fehlschuss nach. Sie hatte zweifellos in der Luft sowie in Rolfes rechtem Fuß gelegen. Und sie hätte Alemannia direkt ins Olimpijskyj, dem Stadion von Schachtar Donezk gebracht, wo damals in herrlich friedlichen Zeiten eben noch Fußball gespielt wurde. Ich erzählte davon, wie Alemannia dort sicher den nächsten Schritt ins UEFA-Cup-Viertelfinale gemacht hätte, was natürlich auch nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum Titel gewesen wäre. Und weil ich mich gerade so in Laune geplaudert hatte, legte ich nach, dass es sicher nicht mehr lange dauern würde bis genau solche Nächte wieder für uns bereitstünden und überhaupt, dass schon bald alles wieder so sein würde wie es einmal war. Ich ballte die Fäuste über dem Lenkrad und freute mich wie ein kleines Kind auf die Erfüllung eines Traums, den man unbedingt träumen muss. Denn hey – wie sagte schon der große Wayne Gretzky, als er wahrscheinlich nach Eishockey gefragt wurde, aber mit einer Antwort für das Leben aufwartete: „I skate to where the puck is going to be, not where it has been.“

Klar – der Aufstieg ist noch nicht in trockenen Tüchern und gerade, wenn Deine Braut Alemannia heißt, solltest Du erst jubeln, wenn die Ringe getauscht und die Flitterwochen gebucht sind. Außerdem: Wer nach so vielen knallharten Jahren Regionalliga schon an Europapokalnächte zu denken wagt, hat sowieso nicht mehr alle Latten auf dem Zaun. Auf der anderen Seite: Wer das alles so lange durchgehalten hat, eben auch nicht. 

Träumen sollte also erlaubt sein, wenigstens ein bisschen oder doch besser gleich ein bisschen mehr. Denn besser als jetzt waren die Zeiten lange nicht. Es sind Zeit für Träume – wann, wenn nicht jetzt?

Und hey: Vielleicht muss es ja auch nicht unbedingt europäisch sein, wenn man so tagträumt. Mein feuchter Traum heißt deshalb auch nicht „Alkmaarderhout“ und auch nicht „Olimpijskyj“, sondern ganz nüchtern „Grünwalder Straße“ – das Schmuckkästchen in München, in dem einst Gerd Müller für die Bayern traf und Petar Radenkovic im 60er-Torwarttrikot die gegnerischen Stürmer mit dem Ball am Fuß vorführte. Da will ich hin – vielleicht gar nicht so gewagt, der Traum. Vielleicht schalten sie dort sogar das Flutlicht für uns ein. Wer weiß das schon? 

Und vorher richtet ein etwas angegrauter Sportschau-Moderatoren seine Krawatte und liest eine Partie vom Teleprompter ab, die nach scheinbar längst vergessenen aber dann wieder auferstandenen Tagen klingt – ganz so, als hätte jemand „1970“ in den DeLorean eingetippt. 1860 München gegen Alemannia Aachen. Keine Frage: Ein Aufstieg in dieser so zuckersüßen Saison wäre der lang ersehnte Schritt raus aus der Bedeutungslosigkeit von Dorfplätzen und Vororten, zurück in genau diesen Fußball der klingenden Namen, die Dynamo Dresden, Rot-Weiß Essen, Arminia Bielefeld und vielleicht 1. FC Kaiserslautern heißen. Ab ins Rudolf-Harbig-Stadion, zur Bielefelder Alm oder rauf auf den Betzenberg, hoch zum Fritz sein Stadion – herrliche, alte, echte Fußballwelt. Dazu vielleicht noch eine leine Prise DFB-Pokal-Atmosphäre, sagen wir mal ein bisschen weltfremd, so bis in den Mai hinein. Und schon könnte man doch glatt noch mal an Alkmaar vorbeifahren. Bisschen atmen, bisschen träumen, bisschen den Wellen beim Rauschen zuhören. 

Diese Kolumne erschien zum Heimspiel der wunderbaren Alemannia aus Aachen gegen LR Ahlen im April 2024.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker