Spiel ihn rüber!

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 27.03.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Spiel ihn rüber!

Ein paar Minuten bevor Mario Krohm das Leder in der allerletzten Faser des Spiels gegen den SC Verl, damals kurz bevor sich das Jahrtausend verabschiedete, ins leere Tor bugsierte, hatte er eine fast identische Chance auf fast schon groteske Art und Weise liegen lassen. Völlig konsterniert griff er sich an den Kopf, sprang wütend auf der Stelle herum und schien es wie all die anderen 15.000 wahnsinnig Werdenden auf den Rängen des guten alten Tivoli schier nicht fassen zu können. So war er, dieser gewaltige Mann, der sich selbst geboren hatte. Er wusste manchmal halt nicht wohin mit sich und all der Kraft, die da in seinem schwarz-gelben Körper pochte. Das Geilste an ihm war aber ohne Frage, dass man nie wusste, ob er nicht gleich noch einmal so eine Chance kriegen würde und noch weniger wusste man, ob er sie nicht noch einmal auf die gleiche Weise verballern oder aber sie eiskalt verwandeln würde. 

Ich war Single damals und pflegte, schönen Frauen, die ich zu später Stunde kennenlernte, immer von genau diesem Mario Krohm zu erzählen, was aber nie zu solchen Abschlüssen führte, wie Krohm selbst sie in seinen besten Momenten auspacken konnte. Genauso einen Abschluss packte er jedenfalls in diesem Spiel gegen Verl aus, das wichtiger war als das Leben selbst und zehn Minuten vor Schluss verloren schien. Es war der große Frank Schmidt, der höchstpersönlich für den Ausgleich sorgte. Und es war Stephan Lämmermann, der plötzlich die rechte Seite herunterfräste und den Ball im unerschütterlichen Glauben an Mario Krohm in die Mitte legte, wo dieser unfassbare Hüne ihn mit seiner mächtigen Innenseite am Verler Torwart vorbei ins Netz versenkte. Nie werde ich die Ohnmacht des Torjubels vergessen, der nicht nur mich, sondern jeden erfasste, der es an diesem 23. April 1999 auf die knarzenden Holztribünen des Tivoli geschafft hatte. Krohm selbst stürmte im Skipping-Style an der Gegengerade vorbei und ließ ganz Aachen dermaßen beben, dass Gerüchten zufolge am Lousberg auf der Richter-Skala eine Erschütterung der Stärke 9,4 gemessen wurde. 

Keine Frage – es sind diese Tore kurz vor Schluss, die Aufstiegswunder schaffen, die Dich auf der Tribüne glauben lassen, dass einfach alles geht in diesem Spieljahr, dass sich all die klebrige Scheiße der letzten Jahre unter Deinen Schuhsohlen zu lösen beginnt – einfach, dass es jetzt oder nie so weit sein wird. Der TSV ist wieder da!

Vor ein paar Tagen schrieb mir ein guter Freund nach Brasnics Elfmeter: „Die Jungs haben irgendwas, was Du nicht trainieren kannst.“ Und genau so ist es, wenn Du in diesen Tagen Alemannia schaust. So wie der große Mario Krohm „dieses Irgendwas“ hatte, so haben es all die Heinz, Hanraths und Brasnics gerade wieder. Sie gewinnen Spiele, die nicht mehr zu gewinnen sind. Heinz Freistoß vor einer vollbesetzten Kurve im Wuppertaler Eiskasten, mit einem Mann weniger und nachdem er schon zwei dieser Dinger getroffen hatte – geht eigentlich hinten und vorne nicht. Mika Hanraths, diesem Frank Schmidt unter den Dauerwellen, fällt das Gerät namens Ball gegen Lippstadt vor die Füße, direkt vor einer nicht besetzten Gästekurve, gut 90 Meter entfernt von der wiederum voll besetzten heimischen Kurve. Mal ehrlich: Kann nach allem, was eigentlich geht, nie im Leben passieren in so einer letzten Minute. Und dann dieser letzte Angriff in dem, was Schalke 04 vom altehrwürdigen Parkstadion übriggelassen hat. Eine letzte Flanke, ein letzter Zweikampf, ein letzter Pfiff. Unmöglich eigentlich. Das weiß jeder, der den Fußball liebt und erst recht jeder, der Alemannia liebt und solche Spiele eben in den letzten Jahren verlässlich verlor, anstatt sie zu gewinnen. Und dann wartet ausgerechnet Mark Brasnic gefühlte 10 Minuten auf die Ausführung eines Elfmeters, der so selbstverständlich im Netz landet, als würde das in Aachen jede Woche passieren, was es ja gefühlt auch irgendwie tut. All das fühlt sich gerade so gut an, dass es mir schwindelig wird. 

Eine Saison ist das, fast wie eine Schlussphase mit Mario Krohm, der einst das Ding danebenlegte, sich an den Kopf griff und wütend auf der Stelle herumsprang – nur um kurz danach laut zu Lämmi rüberzurufen, der die Linie pulverisierte und eine einzige Kreidewolke hinter sich her stauben ließ. Alter! Er wollte das Leder von Lämmi serviert bekommen – unbedingt und jetzt wo ich darüberschreibe, werde ich schon wieder ganz nervös und möchte am liebsten schreien: Spiel ihn rüber, Lämmi! SPIEL IHN RÜBER! Scheißegal, was vorher war! Und dann spielt er ihn rüber zu Mario Krohm, der das Ding versenkt. Und alle sind für einen Moment stumm und taub vor Ekstase. Richter-Skala 9,4. So wie in Wuppertal, gegen Lippstadt und jetzt im Parkstadion. Krohm, Heinz, Hanraths, Brasnic – die Jungs haben was, das kannst Du nicht trainieren.

Diese Kolumne erschien anlässlich des Heimspiels der wahnsinnigen Alemannia aus Aachen gegen den FC Gütersloh am 24. Februar im Tivoli Echo. Alemannia gewann 4:0.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker