Der stärkste Mann der Welt
Die letzten Wochen waren irgendwie Scheiße! Und das gar nicht mal, weil Alemannia in Essen verlor oder der Aufstieg schon zu Weihnachten mal wieder ad acta gelegt werden kann. Geschenkt! Wie egal Fußball und sogar Alemannia am Ende ist, wird Dir eigentlich erst klar, wenn Du Dein Leben nach den Besuchszeiten einer Intensivstation ausrichten musst, Besuchszeiten von 14:00 bis 15:00 Uhr und von 18:00 bis 19:00 Uhr. Was dich Da drin erwartet, beschäftigt Dich deutlich länger als jede Auswärtsniederlage, jeder verpasste Aufstieg oder jedes verlorene Finale. Alles andere wäre auch ziemlich seltsam – bei aller Liebe für das große Spiel.
Als ich meinen Vater zuletzt genau dort besuchte, ging es ihm schlecht und der stärkste Mann der Welt hatte arg zu kämpfen. Er tat das mit Bravour und wie er es immer getan hatte, auf eine bemerkenswert unprätentiöse Art und Weise. Die Schwestern mochten ihn den angenehmen älteren Herrn, der sich interessiert an ihrer Herkunft, ihrer Familie und – natürlich – auch an ihrer Meinung zu diesem und jenem Fußballverein zeigte. Den Chefarzt befragte er bei dessen Visite fröhlich nach den krummen Beinen des Fotomodells auf der Titelseite irgendeiner Zeitung der Regenbogenpresse. Er fachsimpelte kurzerhand mit ihm über die Zukunft von Niko Kovac und beschwerte sich über die mangelhaft angebrachte Klimaanlage an der Decke seines Zimmers. Das ehrfurchtsvolle Schweigen des Ärzte-Kaders im Gefolge des großen Chefs schien ihn nicht groß zu beeindrucken. Den Menschen auf Augenhöhe begegnen war schon immer seine selbstverständliche Maxime und bis heute ist er gut damit gefahren, selbst dann wenn er vermeintliche Größen des Fußballs traf.
Als ich neun war, nahm er Karl-Heinz Rummenigge zur Seite und steckte ihm, dass er dem kleinen Mann an seiner Hand jetzt mal ganz schleunigst ein Autogramm zu geben habe, was der heutige Bayern-Frontmann sofort tat, um schlimmeres zu vermeiden. Das war das erste Mal, das mir schimmerte, dass er der stärkste Mann der Welt sei. Und sein ältester Enkel dachte wahrscheinlich ähnliches, als er mit ihm einst zum Tivoli fuhr, um Thorsten Stuckmann zu treffen, der damals sein Lieblingsspieler war. Stuckis Handschuhe stehen noch heute in seinem Zimmer, gleich neben dem Foto mit ihm in der Mitte zwischen dem großen Torwart und dem noch größeren Großvater, der seine Größe schon zeigte, als sein einziger Sohn selbst die Fußballschuhe schnürte. Tapfer schaute er mir jahrelang beim Fußballspielen zu, ohne wegen meiner mickrigen Künste – für die ich immerhin die sechste und beinahe auch noch die achte Klasse opferte – auch nur irgendwie mal auf die Palme zu gehen oder ein bisschen mehr als das Wenige von mir einzufordern. Erst als ich Jahre später mit unvergessenen Größen wie Lars Halbey, Peter Schmitz oder Peter Roeb auf trostlose Punktejagd ging, hörte er damit auf seine Sonntagnachmittage für mich zu opfern und sagte leicht resigniert zu meiner heutigen Frau, die selbst auch nur ein einziges Mal zuschaute: „Das tue ich mir nicht mehr an.“. Ich musste damals lachen als sie es mir erzählte, denn er hatte es sich so lange angetan und ausgerechnet als ich endlich einen Stammplatz hatte, hörte er damit auf – vielleicht aber auch genau deswegen.
Bis heute hat er allerdings nie damit aufgehört, sich gemeinsam mit mir und seinen Enkeln Spiele im Fernsehen oder im Stadion anzuschauen. Alemannia war zwar nie so sehr sein Verein, wie er meiner gewesen war und doch fuhr er immer mit ins Stadion, wenn ich ihn denn dann mal fragte. Und wenn ich zu Hause anrufe, kann ich sicher sein, dass irgendwo im Hintergrund ein Spiel läuft, dass er sich anschaut – wenngleich er sich auch nicht zu jedem eine explizite Meinung bildet, was ich irgendwie auch immer bewundert habe. Wir, die verheirateten Männer unserer Generation leben ja oft in Beziehungen, in denen man sich ein bisschen wegstehlen muss, um ein Spiel von Anfang bis Ende im Fernsehen zu schauen. Und die Frauen, die Dir liebevoll einen Kuss auf die Wange geben, weil Du Dynamo Dresden gegen die Spielvereinigung Greuther Fürth auf Sky oder um 23:30 Uhr eine Wiederholung des WM-Finals von 1986 auf NDR3 schauen willst, sind rar gesät. Mein Vater hat seinerzeit eine gefunden und auch wenn er sich nicht alles erlauben darf, hat er sich im Fußball doch auf bewundernswerte Weise emanzipiert.
Als er vor gut drei Wochen aus der Narkose erwachte und wir ihn endlich besuchen durften, freute er sich stark benommen und erklärte den Schwestern, dass es jetzt aufwärts ginge. Und es dauerte auch nicht lange bis er nachfragte, wie Bayern und Dortmund in der Champions League gespielt hatten und gegen wen Alemannia am Wochenende ranmüsse. Ich drückte seine Hand und erzählte es ihm ausführlich – aber eigentlich war es mir egal.
Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo zum Spiel gegen den Wuppertaler SV im Dezember 2019