Die letzte Grätsche
Es läuft die 121. Minute im Maracana in Rio de Janeiro. In der Hammondbar in Kölner Südstadt läuft bereits die 351. Minute.
Bastian Schweinsteiger blutet ungefähr seit Mitte der zweiten Halbzeit die Tränen der Pampas. Ein einziges Foul hat er bis hierhin begangen. Ihn selbst aber haben sie geschunden wie es die Junta einst am Rio de la Plata erfand, all die Mascheranos, Zabaletas und Rojos.
Sein Trikot blutverschmiert. Mehrfach behandelt. 5 Jahre danach ist die Erinnerung leicht verklärt. Wurde er im Gesicht getackert, noch auf dem Platz genäht oder war er auf dem brasilianischen Rasen im eigenen Erbrochenen aufgewacht? Wer weiß das heute schon noch genau? Auf jeden Fall war er jedes Mal fast stoisch wieder aufgestanden. So viel gilt auch heute noch als völlig gesichert. Jedes Mal hatte er trotzig in die wilden Augen der Junta geschaut. Sie würden ihn nicht loswerden in diesem Spiel. Kramer, Klose, aber nicht ihn. Nicht heute, nicht in diesem Spiel. Mit jedem Tritt, jedem Ellenbogen, mit jeder in seine Richtung gespuckten argentinischen Rotze würde er noch stärker zurückkommen. Vielleicht verliebte sich Ana in diesen Momenten in ihn, während oben auf der Tribüne noch Sarah von einem Leben mit ihm träumte, einem Leben in Chicago mit hübsch aufgereihten Babyschuhen bei Instagram, mit epischen Abschiedsspielen in der Allianz Arena und lässigen Spaziergängen am Lake Michigan.
Nun aber, in diesem fast letzten Moment von Rio treibt Javier Mascherano – einer dieser argentinischen Schlächter – verfolgt von Thomas Müller den Ball tief in die deutsche Hälfte hinein. Ein letzter verzweifelter Angriff der Albiceleste. Müller erreicht ihn nicht, zu langsam. Der argentinische Abwehrchef spielt das Leder zu Messi – eine leichte Entscheidung. Gerade Mascherano weiß: Jetzt kann nur Messi dieses Spiel noch retten. Ein letzter Antritt von Messi, eine letzte Hoffnung – Messi, nur Messi allein hält sie am Leben. ¡Marca un gol, hermano!
Das ganze Stadion, die ganze Welt weiß: Nur Schweinsteiger kann sich ihm jetzt noch entgegenstellen. Höwedes, Schürrle oder gar Özil würden zu diesem Moment passen wie Andreas Gaballier auf einen antifachistischen Schutzwall. Nein – die alle ziehen sich zurück und überlassen Messi ihrem heimlichen Kapitän, während Philipp Lahm aus sicherer Entfernung hofft an diesem Moment zu wachsen. Kein Zweifel: Dieser epische Moment gehört Messi und Schweinsteiger. Niemandem sonst.
Doch Messi scheint zu schnell. Zu schnell für den blutenden Schweinsteiger, der schon dann als nicht als besonders schnell gilt, wenn er nicht blutet.
Schweinsteiger denkt an früher, denkt an Hermann Gerland, der ihm einst das Grätschen gelehrt hatte. All diese Stunden mit dem Tiger in der C- und der B-Jugend – jetzt machen sie Sinn. Also grätscht Schweinsteiger – nicht irgendeine Grätsche, eine epische Grätsche. Vielleicht die letzte große Grätsche der Fußballgeschichte, in einer Zeit in der das Grätschen verpönt ist wie „Wale töten“ im pazifischen Ozean. Schweinsteiger wird zu Captain Ahab aus „Moby Dick“, der „seinem“ Wal einst mit den Worten drohte: „Wenn mein Körper eine Kanone wäre – ich würde mein Herz auf ihn schießen!“.
Schweinsteigers Körper wird zur Kanonengrätsche. Mit letzter Kraft schmeißt er sich mit Gerlandscher Technik in Messi hinein. Aber sie MESSI-lingt, diese epische Grätsche und verkümmert zu einem herkömmlichen Foul, seinem zweiten Foul in diesem Finale. Fast 70 Prozent seiner Zweikämpfe hat er bis dahin gewonnen, diesen in der letzten Minute verliert er. Ist es der entscheidende?
Die Antwort auf diese Frage wird der Freistoß liefern, den Nicola Rizzoli ohne eine Sekunde zu zögern pfeift. Schweinsteigers Karriere würde sich nicht davon erholen, wenn Messi jetzt trifft. Denn eines ist klar: Messi schießt. NUR Messi schießt. Schweinsteiger verwandelt sich beinahe kafkaesk von einer Grätsche in einen Wadenkrampf – gekrümmt vom Schmerz und heimgesucht von quälender Angst vor diesem Freistoß. Aufstehen kann er nicht. Zwei Betreuer stützen ihn und tragen ihn zur Seitenlinie.
Vom Pfiff bis zur Ausführung des Freistoßes vergehen zwei quälend lange Minuten. Allen, die dieses Finale verfolgen, kommen sie vor wie Stunden. Es scheint als wären die 120 Minuten Finale genau auf diesen einen Moment hinausgelaufen.
„Bitte lieber Gott, der darf jetzt nicht treffen“ Mario Götze, der die Szenerie ungefähr fünf Meter entfernt beobachtet, berichtet nach dem Spiel von flehenden Stoßgebeten, die er – der Sohn eines Atheisten – nun gen Himmel schickt. In der 9.565 Kilometer entfernten Kölner Hammondbar, in der sonst niemand um eine lautstarke Meinung verlegen ist, herrscht seltene Stille. Selbst der Wirt schweigt in ihr – etwas, das seitdem nie wieder geschieht. Bis heute. Bis zu diesem Moment.
Die Fernsehkameras fangen Bilder von bereits weinenden Kindern im argentinischen Fanblock ein. Kleine weinende Gauchos. Kleine weinende Gaucholitos. Verzweifelte Gesichter auf der einen, bangende auf der anderen Seite. Zaghafte Hoffnung, sich abzeichnende Enttäuschung, blühende Träume – alles in diesen zwei Minuten, alles in Messis Freistoß gefangen.
Ein Schuss, sie alle zu knechten. Sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.
Messi steht konzentriert und bedrohlich in sich ruhend gut vier Meter vom Ball entfernt. Higuains Abseitstor, Höwedes Pfostentreffer, Neuers Hüfte, Schweinsteigers Blut, all die Grätschen, all der Kampf, Götzes Geniestreich – all das liegt jetzt in seinen Beinen.
Er muss volles Risiko gehen, weil der Ball gut 30 Meter vom Tor entfernt liegt. Messi weiß: Er muss ihn optimal treffen. Er weiß aber auch: Das ist kein Problem für jemanden wie ihn. Von zehn solcher Bälle schießt er sieben ins Tor. Niemand kann das wie er. Jeder in Argentinien, jeder in Barcelona weiß das. Schweinsteiger, der sich draußen am Spielfeldrand aufrichtet, weiß das. Das ganze Stadion, die ganze Kneipe in der Kölner Südstadt weiß das. Dort in diesem Hort der fußballerischen Fachkompetenz weiß man vor allem, dass der Torwart vor dem Schuss keinen Zwischensprung machen darf. Aber weiß Manuel Neuer das auch, der nun energisch seine Mauer dirigiert, das aber eigentlich auch getrost lassen könnte. Denn wenn Messi ihn wirklich optimal trifft, dann wird er keine Chance haben.
Ein letztes Mal streicht sich Messi mit der Hand durch die Haare, durch sein Gesicht. Dann nimmt er Anlauf. Jeder Schritt zum Ball wie eine Ewigkeit. Drei Ewigkeiten weiter trifft er ihn – mit dem Innenrist.
Als der Ball Messis Fuß verlässt, ist dies ein weiterer Moment, der so langsam ist, das man ihn förmlich hören, riechen, schmecken kann. Doch plötzlich gehorcht ihm der Ball nicht mehr. Er verlässt die Flugbahn, die Messi ihm sonst Woche für Woche befiehlt. Sein Schuss geht drei, fast vier Meter an Neuers Tor vorbei. Die Deutschen Fans jubeln, die argentinischen schweigen verzweifelt und reglos. Messi selbst huscht ein Lächeln über die Lippen – als wüsste er um die Ironie, die seinen Schuss begleitete. Was waren all die Tore gegen Rayo Vallecano, Real Madrid oder Bayer Leverkusen wert, wenn er in diesem einen Moment so schoss, als würde er nicht mal das Meer treffen, wenn er am Strand stünde.
Messi dreht ab. Er weiß: Dieses Spiel ist verloren. Schweinsteiger kommt ein weiteres Mal zurück auf den Rasen. Neuers langer Abstoß landet direkt beim argentinischen Schlussmann Romero, der den Ball noch einmal nach vorne schießt. Befreiungsschlag Götze. Der Ball fliegt noch einmal durch die deutsche Hälfte und wie aus dem Nichts springt tatsächlich – wie ein letzter Affront gegen ganz Argentinien – Schweinsteiger in diesen Ball, noch einmal Schweinsteiger. Und wieder, ein allerletztes Mal wird er hart attackiert und doch bleibt er Sieger in diesem letzten Kopfballduell in dem ihn zwei Argentinier gnadenlos zu Boden strecken. Sekunden später steht Schweinsteiger als Weltmeister auf. Rizzoli pfeift ab.
Dieser Text wurde anläßlich der TORWORT-Lesung am 13. Juli 2019 von TORWORT-Vater Sascha Theisen gelesen.