Der süße Geschmack des Spieltags
Rechts in der Hand liegt die Stadionwurst, wartend auf den ersten Biss und umschlungen von etwas zu viel Senf, sich selbst ausdünstend auf der Schalen-Pappe, in der sie es sich gemütlich gemacht hat. In der linken Hand schwappt das Bier mit jedem Schritt die Treppe hinauf ein bisschen bedenklicher von links nach rechts und von vorne nach hinten – der leichte Seegang im Becher beim Aufgang ist der Bote, der das Spielfeld ankündigt, das nur noch von einem eifrigen Ordner versperrt wird. Der Mann macht seinen Job und bittet kurz einen Blick auf die Karte werfen zu dürfen. Meine Antwort ist ein hilfloser Blick, der sagen soll „Und wohin mit der Wurst? Wohin mit dem Bier?“. Denn das Ticket steckt in der rechten hinteren Hosentasche. In diesen Situationen ist es nicht leicht eine Lösung zu finden. Ein einziges Mal in all den Jahren hat tatsächlich einer in meine Hosentasche gegriffen, zwei weitere Male hielt einer mein Bier und viele andere Male reichte die Antwort „Kollege, meinst Du wirklich ich habe mich hier reingeschmuggelt?“. Dann durfte ich weiter und vor mir öffnete sich das Spielfeld, begleitet von Alemannia-Chants, die die sich aufwärmende Mannschaft auf das Spiel einstimmen und ihr Zuversicht geben sollten. Der erste Biss in die Wurst, der erste Schluck des sich wieder beruhigenden Bieres – selten hat etwas in meinem Leben so besonders geschmeckt wie diese spezielle Tivoli-Kombination. Gleich danach folgte ein prüfender Blick auf die Uhr, um abzustecken, wie lange es noch bis zum Anpfiff dauern sollte. Genuss, Vorfreude, leichter Schwips. So geht Spieltag!
Es ist lange her, dass es so schmeckte, sich so gut anfühlte – viel zu lange. Denn im März knipste dieser verfluchte Virus die Stadien aus und etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte war plötzlich jäh vorbei – der Stadionbesuch, bis dahin verlässlicher Fluchtpunkt, rettende Oase und tröstende Ersatzliebe für eine ganze Reihe Menschen, die sich hier nicht mehr und nicht weniger als Zuhause fühlten. Seitdem ist das Leben nicht mehr das Gleiche. Denn es findet ohne Fußball statt, wenigstens für die, die wissen, dass Leipzig gegen Wolfsburg vor leeren Rängen ungefähr so prickelnd ist, wie Sekt im Bauchnabel von Reiner Calmund.
Keine Frage – heute beginnt eine Alemannia-Saison, die noch viel ungewisser ist als das ohnehin schon immer der Fall war. Du weißt nicht, wie lange sie dauern wird. Du weißt nicht, ob sie zu Ende gehen wird. Du weißt nicht, ob und wie Alemannia sie überleben wird. Du weißt nicht, ob der Offenbarungseid im Pokal schon eine sportliche Botschaft war. Du weißt nicht, ob Du den schwarzen Farbklecks auf dem neuen Trikot mit Gallseife rauspolieren kannst. Und vor allem: Du weißt nicht, ob Du überhaupt noch einmal dabei sein kannst – ob Du noch einmal in die Stadionwurst beißen oder aus dem Plastikbecher trinken kannst, ob Du noch einmal laut reinrufen kannst, dass der gegnerische Stürmer im Abseits steht und ob Du aus deinem Schalensitz springen kannst, um ein Tor zu bejubeln, dass gleich von Robert Moonen und Nobis Printen formvollendet verkündet wird.
Das sind trübe Aussichten, mal wieder und doch ein bisschen anders als in all den letzten Jahren. Du kannst Dich weder in Galgenhumor retten, noch damit drohen in Zukunft auf keinen Fall mehr zurückzukommen. Wer kann schon damit drohen wegzubleiben, wenn das Wegbleiben Programm ist. Selbst nachdem wir die erste DFB-Pokalrunde weggeschmissen hatten, konnte man niemanden mehr damit erschrecken, sich den ganzen Mist beim nächsten Mal einfach nicht mehr anzutun. Ohnmacht de Luxe am Tivoli! Und man fragt sich, wie es nur weitergehen soll in diesen Zeiten, in denen alle Hoffnung wahlweise auf der Tochter von Vladimir Putin, den Entwicklern von Dietmar Hopp und den Ambitionen von Armin Laschet abhängt.
Und gerade dann, wo ich denke, das wird erst mal nichts mehr mit der Stadionwurst, dem Bier aus Plastikbechern und den Durchsagen von Robert Moonen, da erinnere ich mich daran, dass Alemannia doch gerade dann immer wieder am Coolsten war, wenn alle Hoffnung verloren schien. Und die Hoffnung ist diesmal so bescheiden im Vergleich zu all den verblühten Träumen der vergangenen Jahre. Es geht nicht darum, endlich dieser verfluchten Liga zu entkommen. Es geht auch nicht darum, die Bayern aus dem Pokal zu knallen (was wir ganz selbstverständlich getan hätten). Es geht einfach darum, wieder hingehen zu dürfen – etwas unbeweglich mit der Stadionwurst in der rechten und dem Bierbecher in der linken Hand. Das alleine würde schon reichen. Und sollte es so kommen und der Ordner dort oben stehen, um einen Blick auf die Karte zu werfen, dann wird es mir ein echtes Fest sein ihm zu sagen: „Kollege, meinst Du wirklich ich habe mich hier reingeschmuggelt?“. Und vielleicht wird er mich dann mit leicht debilem Lächeln durchwinken, damit ich in die Wurst beißen und von meinem Bier trinken kann. Den süßen Geschmack des Spieltags, den habe ich nämlich nicht vergessen.
Diese Kolumne erschien anläßlich des Auftaktspiels von Alemannia Aachen gegen die Zweite von Borussia Dortmund in die Regionalliga-Saison 2020/21 im Tivoli Echo