Ein Schluck aus Didis Weizenglas
Man sagt, die beste Bratwurst gäbe es in Oberhausen und zwar nicht im dortigen Einkaufszentrum, sondern im Stadion. Nun war ich länger nicht im Stadion – weder in Oberhausen noch sonst wo, so dass ich nicht sagen kann, ob sich die Qualität der Oberhausener Bratwurst oder die Güteklasse anderer Würste in anderen Stadien über die Pandemie gerettet hat. Ja, ja ich weiß: Ich habe schon öfter an dieser Stelle über Bratwürste geschrieben – über den Senf, in den sie gepackt wird, über schöne blonde Frauen, die sie drehen oder über Schwierigkeiten, die man hat, wenn man sie die Treppe zum Schalensitz hinauftragen muss. Vielleicht nervt es ja auch schon. Immer wieder die Stadionwurst – schale Phantasien eines alternden Mannes, die den jungen Sigmund Freud (und den alten auch) sicher fasziniert hätten. Und ja: Meine und nicht Freuds Faszination für das fußballerische Grillgut hat auch sicher etwas tiefenpsychologisches, dass irgendwo im Über-Ich angesiedelt sein könnte – nichts Sexuelles, aber vielleicht spielen Verlustängste eine Rolle. Denn am Ende ist die gute alte Stadionwurst auf ihrer dünnen Pappschale ein Symbol für das Romantische im Fußball, für die Sehnsucht nach der Leidenschaft für das große Spiel, die mir um ehrlich zu sein gerade ein bisschen abhandenkommt. Und so ist die derzeitige Phase ohne jede Stadionwurst ein bisschen sinnbildlich dafür, wie mir Fußball gerade entgleitet.
Heute, wo ich das Stück hier schreibe, verarbeite ich gerade ein Länderspiel, das ich nur noch mit einem Eimer voller Valium ertragen konnte. Ich denke an trostlos leere Ränge in Stadien und an trotzdem unverdrossen weiterlaufende Spiele mit denen Funktionäre der Preisklasse Rotbäckchen-Sekt beweisen, dass Fußball am Ende eben doch auch ohne Fans funktioniert. Ganz nach dem Motto: Ist zwar netter, wenn sie dabei sind, aber dem Spektakel tut es am Ende auch keinen Abbruch, wenn sie nur vor dem Fernseher sitzen. Fußball als Publikumssport schafft sich in diesen Tagen ab – selbst dann, wenn die Zuschauer irgendwann, wenn ich endlich den Impfstoff erfunden habe, zurückkehren, ist der Beweis längst angetreten, dass es zur Not eben auch ohne geht. Das ist genauso schockierend wie verheerend. Keine Frage: All das ist harter Tobak – zumal das Business weiter bestens funktioniert. 130 Millionen Euro für einen Champions League Sieg auf der einen Seite und auf der anderen ein paar Aufrechte, die Virus-Schutzmasken zum Wohl ihres Vereins verkaufen und dabei ehrlich respektable 4.000 Euro erlösen, wie jüngst in Aachen geschehen. Während der eine Erfolg mit einem leblosen Selfie in einer völlig leeren Betonschüssel mitten in Lissabon gefeiert wird, bekommt die Leidenschaft des kleinen aber so ehrenhaften Engagements für die Fortsetzung des Fußballs in Aachen viel zu wenig Aufmerksamkeit und Respekt. Auch das ist ein wenn auch kleiner Ausdruck der perversen Geldverteilung im Fußball. Es kümmert auch niemanden weiter, weil eben niemand in München oder Dortmund erkennt, dass selbst der große FC Bayern nur dann dauerhaft in seinen Sphären fliegt, wenn weiter Stadionwürste in Aachen oder Oberhausen gebraten werden.
Es fällt ehrlicherweise gerade außerordentlich schwer eine Kolumne zu schreiben, die den Fußball – noch dazu den in einer tristen Regionalliga – feiert, wenn er doch gerade alles dafür tut sich selbst abzuschaffen. Wie weit ist es gekommen, wenn man sich schon ehrlich freut, dass Mesut Özil das Maskottchen von Arsenal von seinem wahnwitzigen Gehalt bezahlen will? Und trotzdem: Einfach aufgeben? Ist ja irgendwie auch Scheiße! Aber was bleibt? Die Flucht in die Erinnerung? Klar – im Moment ist es eigentlich nur das. Ein Husarenstück der Fußball-Erinnerung lieferte gestern mein guter alter Freund Stephan aus Freiburg, der einst in einer Kneipe dem heutigen Fußball-Experten Didi Hamann einen Kuss auf die Wange drückte und ihm im Nachgang gleich noch das Weizenglas klaute – nicht Hamann, dem Sky-Experten, sondern Hamann, dem letzten Torschützen von Wembley. Ein Schluck aus seinem Glas musste nach Wembley schmecken und ich schätze, Stephan würde auch schwören, dass er tatsächlich nach Hurst, Tilkowski und Seeler geschmeckt hat. Am Jahrestag von Hamanns letztem Tor im altehrwürdigen Wembley-Stadion postete er gestern einen Neun-Sekünder, in dem er aus just jenem Glas ein Weizen auf Didis letzten Treffer trank. Es sind Videos wie diese, die Mesut Özil bezahlen sollte. Wie ich das liebe, weil es die Leidenschaft ausdrückt, die es zu bewahren gilt. Und wenn ich gerade so darüber schreibe, brate ich mir doch glatt eine Stadionwurst und hoffe, dass vielleicht alles halb so wild wird. Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Mindestens eine Wurstlänge lang…
Dieser Text erschien im Tivoli Echo zum Heimspiel der wunderbaren Alemannia aus Aachen gegen Rot-Weiß Oberhausen am 10. Oktober 2020.