Hundejahre

zum 120. Geburtstag von Alemannia Aachen

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 16.12.2020
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Hundejahre

120 Jahre Alemannia. Echt jetzt? Puh! Das sind so ziemlich genau 43.800 Tage, 1.051.200 Stunden oder 63.072.000 Minuten, wenn man die Schaltjahre mal außer Acht lässt. Keine Frage: Da ist eine Menge Wasser die Wurm heruntergeflossen, die mein WG-Mitbewohner Ralle mal vermessen musste. Doch was echt lange klingt, ist ein Fliegenschiss gegen die gefühlte Zeit am Tivoli. Alle, die es gut meinen mit diesem so unverbesserlichen, so liebenswerten und so chronisch klammen Klömpchensklub wissen: Alemannia-Jahre sind knallharte Hundejahre. Im Internet gibt es einen Blitzrechner mit dem man Menschenjahre in Hundejahre umrechnen kann. 120 Jahre kann man da nicht eingeben, da im Normalfall kein Hund so alt wird wie Alemannia. Wenn man aber eine reguläre Eingabe hochrechnet, kommt man für einen großen Hund – und mit welchen Hunden kackt Alemannia denn bitteschön sonst – auf schmale 1.104 Jahre. Spätestens jetzt könnte einem schwindelig werden. Mehr als ein Jahrtausend Alemannia und mal ehrlich: Jeder, der mit und durch Alemannia alt geworden ist, möchte kein einziges Jahr davon missen – nicht die schmerzenden und natürlich erst Recht nicht die wenigen, die runter gingen wie Leinöl. 

Ich habe fast alle Momente geliebt, die Alemannia mir so eingeschenkt hat in all den Jahren, die ich dabei sein durfte. Klar – ein Gegentor 30 Sekunden vor Schluss im verregneten Heimspiel bei minus 5 Grad wird erst zum Erlebnis, wenn man gut drei Tage später in einer verrauchten Kneipe beim sechsten Bier davon erzählt. Aber Verklärung gehört zum unverzichtbaren Handwerkszeug, wenn Du zum Tivoli gehst. Wer noch nie den Charme in der Niederlage gesehen, das Abenteuer in einem Regenschauer unter Flutlichtmasten erkannt oder die Lust am Desaster eines knapp verpassten Aufstiegs entdeckt hat, der hat bei Alemannia nun wirklich nichts zu suchen. Und der weiß eben auch nicht die wenigen Momente zu schätzen, in denen Du für all die Leidensfähigkeit entschädigt wirst. Und jetzt wo all die 63.072.000 Minuten, die mehr als 1.000 Hundejahre vorbei sind, da schaut man natürlich zurück und fragt sich, was waren eigentlich herausragenden, die überragenden schwarz-gelben Momente in all den Jahren? 

Da war dieser Moment im Mai 1999, als Preußen Münster gerade durch einen epischen Gewaltschuss von Henri Heeren geschlagen worden war- Es war gar nicht mal das Spiel selbst, das mir so unvergessen bleibt, sondern viel mehr der Rausch danach, als die Mannschaft verabschiedet und die Ränge verlassen waren. Deutlich mehr als 25.000 Zuschauer strömten damals aus einem viel zu vollgestopften Tivoli raus in die Kneipen der Stadt. Nie davor und selten danach spürte man an den alten tiefen Kassenhäuschen des Würselner Wall ein so gemeinsames fast schon kitschiges Glücksgefühl. Alte Männer mit Hüten, junge sonst wütende Teenager, über Jahre leidgeprüfte Allesfahrer, auf den Trend aufgesprungene Studenten – alle beschwingt auf dem Weg aus ihrem Stadion, in dem sie gerade, das war irgendwie allen klar, den lange ersehnten und eigentlich nicht mehr ganz erwarteten Aufstieg eingeatmet hatten. Ein völlig surrealer Moment, der dadurch verstärkt wurde, dass gleichzeitig leicht bekleidete Damen, ausgesandt von der parallel stattfindenden Erotikmesse, direkt vor den Kassenhäuschen Flyer verteilten, die auf allerhand erotisches Spielzeug hinwiesen. Irgendwie deplatziert und irgendwie auch nicht. Es fügte sich alles zusammen in diesem Moment – Glück, Heeren, Erfolg, Flutlicht, Aufstieg, Alemannia und ja: selbst Sex. Alles gleich hinter dem Würselner Wall. Einzigartig und nie wieder erreicht. Ein Moment, der nur ein paar Tage brauchte, um aus purem Glück pure Tragik zu machen – denn es war das letzte Spiel des Jahrhundert-Trainers, der Alemannia nur ein paar Tage verlassen musste. Glück und Tragik so nah beieinander, erst so schön, dann so schmerzhaft. Sinnbildlich.

Rückblickend sind es eigentlich vor allem solche Momente, die mich in jeder Hinsicht bewegen, wenn ich an Alemannia und an meine Geschichte mit ihr denke. Weniger möchte ich an einem solchen Jubiläum meine gedankliche Zeit mit Kopfbällen, Toren oder Glanzparaden verbringen. Wenn ich so darüber nachdenke, sind es eigentlich die Wege zu Alemannia und die Wege wieder von ihr weg, die bleiben – so wie der Weg aus dem wundervollen alten Tivoli raus in die Stadt. Vielleicht weil sie im Nachhinein so viel verklären. Wie der lange Weg zum Olympiastadion in Berlin seinerzeit – ein sonniger Nachmittag im Zentrum des ganz großen Fußballs, des Final-Fußballs in einem völlig und in jeder Hinsicht überdimensionierten Stadion. Eine Bahn voller Menschen in schwarz und gelb, die alle den Augenblick genossen, weil sie wussten: „Das hier kommt nie wieder!“. Nie war mir eine Niederlage mehr egal gewesen als damals im Mai und selten war ich so froh, Alemannia zu haben und keinen anderen Verein. Das wusste ich in dieser Bahn und später noch als ich nachts durch die Straßen der Hauptstadt wankte, auf meinem Weg lange nach dem eigentlichen Spiel immer noch an Alemannia denkend.

Manchmal erzähle ich meinen Jungs von Berlin und natürlich können sie meine glänzenden Augen nicht wirklich verstehen. Sie kennen Alemannia nur von der X-Achse, wie könnten sie fühlen, dass dieser Verein mal ein DFB Pokalfinale spielte? Und doch sah ich das gleiche Gefühl einige Mal auch in ihren Augen – etwa als wir gemeinsam eine schmucklose Straße in Bonn entlang trotteten, um ein Finale anzuschauen, das im Vergleich zu Berlin Zinnsoldaten-Größe hatte, aber für sie trotzdem ein Finale blieb. Die Tränen meines Kleinen nach der Niederlage im ersten und die Freude nach dem Sieg im zweiten Jahr. Wege zu und von Alemannia weg sind eben besondere Wege – seit 1.104 Hundejahren. Herzlichen Glückwunsch, Alemannia!

Dieser Text erscheint in der Sonderausgabe des Tivoli Echo anläßlich des 120. Geburtstag der großartigen Alemannia aus Aachen.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker