Fußball-Blues
Was schreibt man in einer Kolumne über Alemannia in solchen Zeiten? Was kann einem zu Fußball noch einfallen, wenn ein Besuch beim Lieblingsverein so weit entfernt ist, wie der Wendler von Gehirnschmalz? Als ich auf der verzweifelten Suche nach Themen für diese Kolumne versuchte, mich an meinen letzten Tivoli-Besuch zu erinnern, war ich blitzeblank. Ich weiß es einfach nicht mehr. Keine Ahnung, nicht mal den Hauch. Zwar sehe ich schemenhafte Bilder, die aber unwirklich und maximal aus einer anderen Zeit stammen, die mir vor allem deswegen Angst einjagt, weil ich nicht sicher bin, ob sie noch einmal zurückkommt. Und das ist ja schon bedenklich in einer Woche, in der ein Aachener quasi das Kanzleramt klar gemacht und Alemannia fast zeitgleich den ehemalige Kapitän von Fortuna Köln sowie den Fleisch gewordene Zungenbrecher Mergim Fejzullahu verpflichtet hat – alles Themen, die normalerweise Gesprächsstoff für eine komplette Fahrt von mir zu Hause bis an die Krefelder reichen.
In der gut zweiwöchigen Winterpause in diesem Spieljahr habe ich, nachdem mir meine Stadionbesuche ja nun schon seit dieser gefühlten Ewigkeit entzogen wurden, auch meine Beziehung zum Sessel-Fußball beendet. Ich habe mit all den Bezahlsendern Schluss gemacht, die mir schon so viele Mittwochabende oder Sonntagvormittage retteten. Fast den kompletten Dezember habe ich seitdem damit verbracht auf das klingelnde Telefon zu starren und nicht ran zu gehen, weil mich ein Sky-Mitarbeiter zurückholen wollte. Ich möchte aber nicht zurück und wusste, wenn ich ranginge, würde ich schwach werden. Zuerst dachte ich, ich hole mir für einen Zehner das Konkurrenzprodukt, um mir Inter Mailand gegen Bergamo zu geben, wenn es läuft. Aber dann fiel mir ein: Scheiße, da herrscht ja die gleiche gähnende Leere wie in München, Madrid oder Rödinghausen. Was soll ich mir also Romelu Lukaku geben, wenn selbst Vincent Boesen nur noch eine brüchige Erinnerung ist? Irgendwie fühlt es sich falsch an, Fußball im Fernsehen zu verfolgen ohne die Chance zu haben, selbst dazuzugehören. Natürlich war ich auch früher nicht im San Siro und auch nur selten in Rödinghausen oder Ahlen. Aber dafür sah ich all die anderen dort – Leute, die mir nah waren obwohl ich sie nie persönlich kennenlernen würde. Bekloppte, die den Rest eines Tages wegen einer Niederlage nicht mehr sprechen oder im Fall eines Sieges ganze Kneipen austrinken. Wer hat schon Lust sich im Fernsehen anzuschauen, dass sie nicht mehr da sind?
Von all diesen Gedanken ahnt der Sky-Typ, der in der Sascha-Theisen-Dauerwarteschleife hing natürlich nichts und versucht seit November tapfer weiter mich zu erreichen. Um ihm zu entgehen, telefoniere ich bisweilen einfach selbst wahllos durch die Gegend und freue mich dann diebisch und ein bisschen debil darüber, dass an seinem Ende der Leitung besetzt ist. Manchmal spreche ich dann etwas länger mit meinem Vater, der allerdings in seinem epischen Fernsehsessel keinerlei Anstalten macht, sich meinem Fußball-Blues anzuschließen. Vielmehr erwische ich ihn dabei, wie er sich Partien der Güteklasse Greuther Fürth gegen Paderborn reinzieht und gleich auch noch eine Meinung dazu hat. Ehrlich – diese Hingabe bringe ich gerade einfach nicht auf. Spiele, Ergebnisse, Spielzüge, Auswärtstore, Rückstände, Last-Minute-Treffer ziehen gerade an mir vorbei wie früher der sich türmende Berg gebrauchter Tassen und Teller mit schimmelnden Essensresten auf der Spüle unserer Studenten-WG. Keine Frage: Diese verflixte Pandemie hat mich in die denkbar tiefste Fußball-Depression katapultiert. Es vergehen Bundesliga-Spieltage ohne, dass ich auch nur ein einziges Tor von ihnen sehe. Es gab Zeiten, da habe ich in Trinkrunden feierlich und das Glas hebend verkündet, dass Fußball nie aus meinem Leben verschwinden würde und immer für mich da sein werde. Leider ist er seit ein paar Wochen genauso weit weg wie diese Trinkrunden.
Was also schreiben in einer Kolumne, die anlässlich eines Alemannia Heimspiels gegen RW Ahlen erscheint? Vielleicht, dass man die eingesparte Sky-Kohle nutzen könnte, um sich ein Ticket des Alemannia-Livestreams zu gönnen. Klar – das könnte man machen. Schließlich ist Mergim Fejzullahu wieder an Bord. Den Fernsehsessel würde es freuen und meinen Vater sicher auch. Dann könnte man das Telefon neben den Fernseher legen und es einfach klingeln lassen. Und ganz vielleicht fällt mir dann wieder ein, wann ich das letzte Mal am Tivoli war.
Diese Kolumne erschien anläßlich des Heimspiels der mächtigen Alemannia aus Aachen gegen RW Ahlen am 23.1.2021 (leider ohne Zuschauer).