Pfeif ab – echt jetzt!
Seit gut einem Jahr denkt man jetzt schon in Inzidenz. Inzidenz – ein Begriff, den ich im März 2020 noch für eine vielversprechende kolumbianischen Nachwuchshoffnung gehalten hätte. Juan Pablo Inzidenz, ein junger Rechtsaußen, der gerade bei Independiente Medelin von sich reden macht. Ein echter Geheimtipp mit krauser Frisur und starkem rechten Fuß, der dick unterstrichen auf dem Notizzettel der Alemannia steht, nicht zuletzt weil die Stawag ein Mini-Kraftwerk zur Kraft-Wärme-Kopplung auf dem kolumbianischen Brachland gebaut hatte, das mit dem jungen Inzidenz hätte verrechnet werden können. Man kennt sich, man hilft sich.
Leider alles Quatsch – Inzidenz hat mit der ersten kolumbianischen Liga und mit Alemannias Transferbemühungen ungefähr so viel zu tun wie Lippstadt oder Oberhausen mit Heimspiel-Niederlagen. Stattdessen ist alles, wie es eben seit einem Jahr ist: Hässliche und zunehmend nervende Infektionszahlen werden in ebenso hässliche und nervende Inzidenzen umgerechnet. Daraufhin sagen Ministerpräsidenten Fußballspiele ab, verschieben sie oder schränken sie ein. In jedem Fall gibt es seit der Inzidenz keinen Fußball mehr mit Zuschauern und alleine das reicht ja schon um die viel zitierte Inzidenz in den Club der verdammt uncoolen Worte und eben nicht in den der hoffnungsvollen Rechtsaußen zu stecken. Was waren das doch noch für Zeiten als es unser größtes Problem war gleichzeitig fünf Stadionbiere von der Wurstbude zum Schalensitz zu tragen ohne etwas zu verschütten? Die gute alte Zeit.
Ein bisschen entzaubern lässt sich so ein Inzidenzwert aber am Ende, wenn man ihn auf andere Lebensbereiche anwendet. So liegt die Inzidenz für spaßfreien Fußball derzeit deutlich höher als etwa der Fremdschäm-Faktor bei Schimpansen-TV-Formaten wie dem Bachelor oder Love Island. Aber wo soll die Lust auf Fußball auch herkommen? Tritt er doch gerade wenigstens in den ersten beiden Ligen und den europäischen „Millionen-Dollar-Wettbewerben“ unbarmherzig und nachhaltig den Beweis an, dass er auch ohne all die Menschen, die ihn lieben auf den Tribünen einwandfrei weiter funktioniert – wenigstens auf kommerzieller Ebene, was all den Cognac-Kalles dieser Fußball-Welt offenbar reicht, um sich weiter in Tauchermasken und Kaschmirmänteln geswagt auf den Ehrentribünen von Hoffenheim bis Leipzig mit ihren Marketing-Chefs abzuklatschen und zuversichtlich dem nächsten Fernsehvertrag entgegenzufiebern.
In so einer Gemengelage hilft es dann eben mal so gar nicht, wenn man den Live-Stream aus Oberhausen oder Lippstadt quasi als ganz persönliche Fußball-Impfstoff-Kampagne heranzieht, um dem ganzen Mist zu entfliehen. Denn auch Alemannia hat sich offenbar entschieden, sich der ganzen Tristesse anzuschließen und sich irgendwo zwischen Platz 12 und 15 der Regionalliga einzupendeln – wenn man so will Inzidenzwert 13 pro 21 verfügbaren Tabellenrängen. Das ist eine ganz schön hohe Inzidenz und wohl auch nur mit einem harten Lockdown und dem beherzten Einschreiten von Herrn. Dr. Bader in den Griff zu kriegen, aber auch erst wenn der direkt aus seiner Praxis heraus an die Sache ran darf.
Nicht in den Griff kriegen muss er allerdings die Typen, die den Alemannia-Live-Ticker trotz allem Woche für Woche an den Start bringen. Förmlich hören konnte ich zuletzt den geschriebenen Aufschrei in der Schlussphase beim Spiel gegen die Zweite von Borussia Mönchengladbach. „PFEIF AB! – Echt jetzt“ brüllten die Ticker-Alemannen völlig enthemmt in die Tasten und trafen damit endlich noch einmal mitten in mein brachliegendes Fußballherz – Inzidenzwert für Leidenschaft und Herzblut: 200 pro 200 Tickereinträgen. Da fieberte jemand in der letzten Minute mit seinem Verein und für einen kurzen Moment sah ich mich selbst wieder aus dem Schalensitz meines Vertrauens aufspringen und den Schiedsrichter in eine Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung anbrüllen, er möge dieses Spiel, dessen letzte Minuten mich so aufwühlen, doch endlich abpfeifen. Was gäbe ich nur für diesen Schrei? Es sind diese kleinen Momente der Erinnerung hervorgerufen durch einen kleinen Texteintrag, die uns derzeit bleiben – die und die Hoffnung, dass sich irgendwo im kolumbianischen Brachland ein junger Rechtsaußen empfiehlt.
Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo der großartigen Alemannia aus Aachen zu Ehren des Heimspiels gegen den SV Rödinghausen, zu dem leider keine Zuschauer zugelassen waren.