Ein Traum aus Polyester

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 21.08.2021
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Ein Traum aus Polyester

Das erste Saisonspiel ist immer ein Feiertag. Die Träume blühen. Die Hoffnungen auf die eine überragende Saison sind ebenso intakt wie die Verheißungen, die die Neuzugänge begleiten. Selbst die wildesten Aufstiegsphantasien scheinen völlig realistisch. Das Wetter ist meist so gut, dass das neu im Fanshop erstandene Trikot so hauchzart über den Wams gleitet, als sei es nur dafür gemacht – ein Traum aus Polyester. Wie wird sich dieser Traum in diesem so speziellen Jahr am Tivoli anfühlen? Wie wird es sein, am angestammten gelben Schalensitz oder am Wellenbrecher des Vertrauens anzukommen? Was soll man trinken? Was essen? Welcher Chant wird der erste zu hörende sein? Wie wird es sein, wenn der erste Zweikampf gewonnen wird? Wie wird da Gras riechen? Wie wird es ausgehen? 

Eigentlich stellen sich diese Fragen jedes Jahr aufs Neue. Denn eine neue Saison ist wie ein neues Leben. Nur: Dieser Saisonstart ist anders – ein Stück weit unberechenbarer. Eineinhalb Jahre kalter Entzug haben für reichlich Storno in den Synapsen des Kleinhirns gesorgt. All die Geisterspiele, all die verwackelten Live-Streams, all der uninteressante und belanglose „Radio-Müller-Mist“, all das hat früher so routiniert abrufbare Saisonstart-Abläufe ernsthaft ins Wanken gebracht. Wir müssen nicht drum herumreden: Dieses Jahr geht es ans Eingemachte, wenn der Tivoli öffnet. 

Wird das Stadion mir noch die unschlagbaren Gegensätze geben, die es mir in all den Jahren gab? Geborgenheit und Kälte, Furcht und Zuversicht, Ekstase und Wut, Courage und Angst, Hoffnung und Verzweiflung. Ist die ganze Wucht noch da? All das entscheidet sich in diesem ersten Heimspiel der Saison, das auf eine Auswärtsniederlage folgt, die unglücklicher nicht hätte sein können. Du verfluchte Last-Minute-Niederlage! Wobei: Schön, dass es Dich noch gibt. Denn was wäre Alemannia schon ohne ein Gegentor in letzter Minute? Irgendwie gibt diese 92. Minute von Münster, begleitet vom F-Word im Ticker, so etwas wie Sicherheit, dass alles wieder wird wie früher. Nicht besser, aber eben auch nicht schlechter. Wie früher – das wäre doch schon was bei der Rückkehr ins Stadion. 

Diese Hoffnung auf ein bisschen Stadion-Normalität kommt in einer Woche, die in ihren Fußball-Erzählungen noch einmal alle Register zieht. Eine Woche, in der Lionel Messi Tränen des Abschieds heuchelte, um sich nur zwei Tage später im Prinzenpark für einen Millionen-Vertrag mit Bengalos und katarischen Handschlägen feiern zu lassen – ein Stück Fußball, das mir auch in den letzten 18 Monaten nicht gefehlt hat. Aber als wollte er pünktlich zum Tivoli-Auftakt in ein neues Spieljahr daran erinnern, dass der Fußball einmal anders und ein bisschen besser war, ging in der gleichen Woche neben dem unvergessenen Gerd Müller ein weiterer ganz Großer für immer vom Spielfeld: Heinz-Gerd „Kalle“ Klostermann – eine Alemannia-Legende, die sich auskannte mit Saisonauftakten. In der Saison 1968/69, so wissen es die Alemannia-Annalen zu berichten, gab er dem damaligen Deutschen Meister aus Nürnberg gleich am ersten Spieltag drei Dinger mit und führte seine Alemannia zu einem 4:1 Erfolg. Am Ende stand die Vize-Meisterschaft, der bis heute größte Erfolg der Vereinsgeschichte. Legenden werden oft am ersten Spieltag geboren und irgendwie kann es auch kein Zufall sein, dass sie kurz davor auch wieder gehen.

Keine Frage: Dieser Saisonauftakt ist etwas Besonderes und zwar völlig unabhängig davon, in welcher Liga er stattfindet. Er ist der purste Neustart aller ersten Heimspiele in einer Saison – vor allem und in allererster Linie auf den Rängen. Und gerade deswegen ist er nicht zuletzt ein Feiertag. Schließlich haben wir lange darauf gewartet. Die Träume blühen. Ein Traum aus Polyester! Der TSV ist wieder da!

Dieser Artikel erschien anläßlich des Heimspiels der großartigen Alemannia aus Aachen am 21. August 2021 im Tivoli Echo.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker