Überspringender Funken

Kolumne Tivoli Echo

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 09.09.2021
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Überspringender Funken

Wenn es regnet, wird man im Normalfall nass. Das ist eine Erkenntnis für die man jetzt nicht unbedingt Raketenwissenschaft studiert haben muss. Und trotzdem gilt sie für Fußballspiele nur noch in Einzelfällen. Gewaltige Wellblechdächer über den Sitzen und Stehrängen sorgen längst dafür, dass es im Stadion nur noch dann feucht wird, wenn es seitwärts regnet. Das ist komfortabel und im Grunde auch kein Grund zur Klage. Wer wird schon gerne nass gemacht? Man verklärt letztlich auch die verregneten Tivoli-Spieltage der nicht zurückholbaren Vergangenheit, wenn man sehnsüchtig daran zurückdenkt, wie einem einst bei einem Heimspiel, sagen wir mal gegen den Karlsruher SC, der Starkregen ins Gesicht peitschte, Alemannia bei diesem Sauwetter kurz vor Schluss verlor und anschließend die Lieblings-Lederjacke entsorgen werden musste – vom unausweichlichen Männerschnupfen ganz zu schweigen, der einen wie mich nachher erbarmungslos niederstreckte. Es ist also etwas angenehmer geworden auf den Stehrängen am Tivoli – dort wo der Support ein gutes Stück bedingungsloser ist als in den Sitzschalen, in die es mich bequemen Familienvater mittlerweile verschlagen hat.

Auf Stehplätzen – so viel steht mal fest – werden keine Kompromisse gemacht. Hier wird Hoffnung zum Gesang, Wut zum Wurf mit dem Bierbecher, Zuversicht zur geballten Faust und Verzweiflung zum Ansporn. Dort wo man sich an Wellenbrecher klammert, um Haltung zu bewahren, um sich beim Torschrei abzudrücken oder um sich bei der kläglich vergebenen Torchance in ihm zu verknoten. Hier werden Menschen eins, die sich vielleicht im normalen Leben nicht wirklich viel zu sagen hätten. Sie schmettern Anfeuerungsrufe, schreien ungefiltert ihren Frust raus und nehmen es sich kein bisschen übel, wenn dabei unflätige Schimpfwörter über ihre Köpfe hinweg in Richtung Rasen fliegen. Ich kann mich noch gut an das Gesicht meines Vaters erinnern, als ich vor Jahren bei einem gemeinsamen Besuch auf den Stehrängen des alten Tivolis voller Wonne einen vollbärtigen Fünf-Zentner-Kilo-Mann umarmte, der sich ganz offensichtlich unter der Woche nur mit Bier duschte und auch sonst eher ein Mann der Marke war, die Väter ihren Söhnen jetzt nicht unbedingt anraten. Aber hier am Wellenbrecher  finden eben alle zusammen – vereint in einem Interesse, dem Alemannias. 

Besonders imposant äußert sich die Kraft, die sich aus so viel Vielfalt ergibt, dann, wenn Stehplätze direkt hinter dem Tor angesiedelt sind – so wie auf dem Tivoli. Dann nämlich kann man erkennen, wie die Bedingungslosigkeit der Stehränge ihre Spieler darin bestärkt, immer wieder auf diese anzurennen und einen Angriff nach dem anderen zu initiieren – zum Beispiel, wenn es gilt einen Rückstand zu drehen, ein Spiel in der Schlussphase zu entscheiden oder einen knappen Vorsprung Grätsche für Grätsche zu verteidigen. In solchen Momenten haben Stehplätze direkten Zugriff auf das Spiel. Manchmal entscheiden sie es sogar. Dann reißen sie die Sitzplätze und ein ganzes Stadion mit. Die Kommentatoren des Spiels sprechen dann davon, ein Funke springe über. Fälschlicherweise meinen sie, dass dieser von der Mannschaft überspringe – in Wahrheit springt er aber vom Stehplatz auf das Stadion über und das ist imposant und mit nichts anderem vergleichbar, wie jeder bestätigen kann, der einmal einen solchen funkelnden Moment in einem Stadion erlebt hat. 

In den letzten 18 Monaten waren die Stehplätze am Tivoli geschlossen und man kann nicht sagen, Alemannia hätte in dieser Zeit viele Funken erlebt. Eigentlich ganz im Gegenteil. Die Funken blieben aus – denn Schwarz und Gelb spielte ohne sein stehendes Herz, das eben direkt hinter dem Tor schlägt. Es ist also durchaus eine gute, eine Hoffnung machende Nachricht, dass heute dieses Herz wieder reanimiert wird. 

Die Südtribüne am Tivoli wird wieder geöffnet. Und das wurde höchste Zeit. Denn selten brauchte Alemannia sie mehr als nach einem Saisonstart, der in etwa so ernüchternd war wie Starkregen, der Dir von links nach rechts regnend direkt in Gesicht peitscht. Und das gehört zum Glück schon lange der Vergangenheit an. 

Diese Kolumne erschien im famosen Tivoli Echo der nicht minder famosen Alemannia aus Aachen anläßlich des Heimspiels gegen den schlafenden Riesen aus Wiedenbrück im September 2021.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker