Die Bälle weg!

Ein Rückblick auf Stockheims Zweite – in Erinnerung an den großen Peter Schmitz

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 26.10.2021
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Die Bälle weg!

Woche für Woche kicken Kreisliga-Fußballer was das Zeug hält auf Aschenplätzen, abgewetztem Kunstrasen oder zu Matsch verkommenen Rasen – einfach, weil sie das Spiel lieben. Die Krux an der Sache sind die Spieltage, die oft leider viel zu früh angepfiffen werden.

Dieser Rückblick auf die ruhmreiche zweite Mannschaft des TSV Stockheim, die Ende der Neunziger die Fußballwelt erschütterte, ist gleichzeitig eine Hommage an den großartigen Peter Schmitz, der heute vor 5 Jahren das Spielfeld verließ:

Freitag

21.30 Uhr: Trainer Werner Thelen erinnert nach dem wöchentlichen Abschlusstraining an das bevorstehende Spiel gegen Hellas Embken II. Anpfiff wie immer 11 Uhr, Treffpunkt wie immer 9:15 Uhr. Abschluss-Appell an die Mannschaft „Jungens – am Sonntag bleiben die drei Punkte in Stockheim. Haltet Euch am also Wochenende zurück!“ Die Mannschaft lacht. Werner Thelen verlässt die Umkleidekabine.

Sonntag

4:30 Uhr: Ich schließe die Tür auf. Hatte wirklich versucht mich zurückzuhalten. Mist! Nicht geklappt. Ich bin aber trotzdem überzeugt Hellas Embken im Alleingang zu schlagen. Werde rechts spielen – das kann ich, glaube ich.

8:15 Uhr: Der Wecker klingelt. Nach drei Stunden Schlaf ist die Aussicht auf die rechte Seite gegen die Zweite von Hellas Embken ungefähr so attraktiv wie die auf eine Liebesnacht mit Alice Schwarzer. Angewidert schalte ich den Wecker wieder aus und drehe mich um.

8:20 Uhr: Der gestern vorsorglich gestellte, zweite Wecker klingelt. Meine neben mir liegende Freundin Tanja schaut rüber und setzt eine Miene auf, die irgendwo zwischen Atomkrieg und Molotow-Cocktail angesiedelt ist. Ich schalte den Wecker aus und drehe mich wieder um.

8:25 Uhr: Der dritte aufgestellte Wecker klingelt. Tanja entscheidet sich, noch am gleichen Tag einen anderen Freund zu suchen – einen, der Sonntags nicht mitten in der Nacht aufsteht, um die Zweite von Hellas Embken zu schlagen und sich dabei von Leuten wie Werner Thelen anschreien zu lassen.

8:27 Uhr: Ein Tritt Tanjas kickt mich aus dem Bett. Ich schaue in den Spiegel und verwerfe den Gedanken den Mann darin zu waschen gleich wieder. Mir wird klar: Der Tod schickt seinen besten Mann.

8:55 Uhr: Ich schließe mein Auto auf. Es regnet. Die Sporttasche steht seit Freitag noch im Kofferraum. Sie riecht – sie riecht streng! Ich fahre los. Die Straßen sind wie leer gefegt. Der schleppende Vorverkauf für das bevorstehende Spiel Stockheim II – Hellas Embken II scheint sich zu bestätigen.

9:20 Uhr: Erreichen des Treffpunktes – fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit. Ich schaue mich um und erkenne das, was ich bereits ahnte: Ich bin der Erste. Die Umkleidekabine ist noch verschlossen. Ich stelle mich vor die Umkleidekabine und warte. Es regnet. Ich werde nass.

9:35 Uhr: Die Mannschaft trudelt langsam ein. Bis jetzt sind sieben Mann da. Rekord für diese Saison. So früh waren noch nie so viele Leute da. Die Motivation des Teams hält sich in Grenzen. Kaum einer war vor mir zu Hause. Es regnet. Alle werden nass.

9:45 Uhr: Der Platzwart Werner – genannt Ernesto – betritt die Szenerie. Auf die Frage, ob wir auf Rasen oder Asche spielen, sagt er den Satz, den er jeden Sonntag sagt: „Jugend hat Vorrang“. Das bedeutet: Asche! Ernesto geht und zieht die Linien auf dem Aschenplatz. Sie werden tendenziell schief. Es regnet. Die schiefen Linien verwischen langsam.

10:00 Uhr: Werner Thelen verteilt die Trikots und verliest die Aufstellung. Ich erfahre von ihm, dass ich erst einmal nicht zur Verfügung stehe. Für mich spielt Oliver Boldin, genannt „Der Lebensmittelstürmer“. Seine Mutter ist Trikotsponsor und er ist die große weiße Hoffnung Stockheims. Heute hat er ein Brauhaus in Düren und dürfte Trikotsponsor in Stockheim sein.

10:15 Uhr. Werner Thelen fordert „Jungs – wir brauchen die drei Punkte! Ich ziehe Euch die Eier lang, wenn wir verlieren.“ Wir gehen raus zum warm machen. Die Zweite von Hellas Embken kommt gerade erst an. Sie sind zu neunt.

10:30 Uhr: Nach zwei ermüdenden  Läufen über die Hälfte des Platzes ändern wir die Warm-Mach-Strategie und schalten um auf „Dehnen“. Irgendjemand wirft Bälle auf den Platz. . Werner Thelen schreit über den gesamten Platz: Die Bälle weg!

10:45 Uhr: Der Lebensmittelstürmer schießt Ecken in den Sechszehner, von denen keine einzige jemanden aus der dort versammelten Mannschaft erreicht. Die Mannschaft im Sechzehner interessiert sich allerdings auch nicht dafür und spricht stattdessen lieber über das vergangene Wochenende. Werner Thelen wird es zu bunt. Er ruft: Die Bälle weg!

10:55 Uhr: Werner Thelen ruft erneut über den gesamten Platz: Wir haben keinen Schiri. Platzwart Werner – genannt Ernesto – springt ein. Zu Hause dreht sich Tanja gerade noch einmal um.

11:00 Uhr: Anpfiff vor vier Zuschauern. Der Anstoß wird zum Befreiungsschlag. Es regnet. Alle sind längst schon nass.

11:00 – 11:45 Uhr: Keine nennenswerte Aktion. Das Spiel plätschert vor sich hin. Es regnet. Ich stehe draußen. Der Lebensmittelstürmer spielt lustlos. Tanja schläft.

11:45 Uhr: Halbzeit. Es steht 0:0. Drei der vier Zuschauer gehen zu Inge- der Stockheimer Dorfkneipe. Sie werden nicht wieder zurückkommen.

11:50 Uhr: Werner Thelen hält die Halbzeitansprache. „Jungens. Die haben in der Abwehr 800 Kilo lebend Gewicht. Die beiden Vorstopper sind Zwillinge. Dat sind wichsende Zwillinge!“

12:00 Uhr: Die zweite Halbzeit beginnt. Der Anstoß wird erneut zum Befreiungsschlag. Es regnet.

12:10 Uhr: Werner Thelen sagt: „Mach Dich warm. Du kommst für den Lebensmittelstürmer. Ich kann den nicht mehr sehen.“

12:15 Uhr: Ich komme für den Lebensmittelstürmer. Der räumt missmutig den Platz und zeigt vorsorglich auf sein hinter ihm her schleifendes Knie. Einer der Zuschauer ruft: Wir müssen morgen alle wieder arbeiten!

12:30 Uhr: Mein erster Ballkontakt. Der Ball verspringt. Ich grätsche ihm hinterher, ziehe mir dabei eine Schürfwunde von der Hüfte bis zum Knie zu. Mein Gegenspieler bekommt den Ball gegen sein Schienbein. Von da prallt er ins Seitenaus. Wir schauen uns gegenseitig in die Augen und wissen: Über unsere Seite passiert nichts mehr. 

12:40 Uhr: Die Schlussphase. Achim Heinrichs – gerade eingewechselt – hat die erste Torchance des Spiels. Der Ball fliegt in hohem Bogen Richtung Sechszehner und titscht auf den harten Asschenboden. Von dort springt er Heinrichs vor die Füße. Heinrichs schießt, Thelen schreit, der Torwart von Hella Embken II reagiert nicht, der Ball rollt vorbei. Weiter 0:0.

12:44 Uhr: Hellas Embken erhält einen Elfmeter. – gepfiffen von unserem Platzwart Ernesto, der nicht mit sich diskutieren lässt. Der Spielführer von Hellas trifft im Nachschuss. Platzwart Werner – genannt Ernesto – pfeift gleich danach ab. Hellas Embken gewinnt. Es regnet.

12:50 Uhr: Ich dusche. Mein rechtes Bein mit dieser irrwitzigen Schürfwunde ist nicht mehr zu spüren. Werner Thelen spricht davon, dass er so etwas früher jeden Tag hatte. Draußen regnet es.

13:30 Uhr: Die Mannschaft feiert die Niederlage bei Inge. Ich bestelle ein großes Kölsch und eine Currywurst. Meine stärkste Aktion des Tages. Die drei Zuschauer aus der ersten Halbzeit fragen, wie es ausgegangen ist. 

15:00 Uhr: Nach sechs weiteren großen Bieren fahre ich nach Hause. Tanja ist nicht mehr da. Ich rufe sie an, sie fragt: Wie habt Ihr gespielt? Ich antworte nicht. Ich bin angetrunken. Am Freitag ist Training. Ich gehe ins Bett.

Dieser Text wurde auf zahlreichen TORWORT-Lesungen vom leider viel zu früh verstorbenen Peter Schmitz und Sascha Theisen zum Besten gegeben – er stand und steht sinnbildlich für ihre überschaubare und trotzdem schillernde Fußballkarriere.

Peter Schmitz (links) bei einer Lesung im Aachener Dumont im Februar 2010

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker