Gewonnene Schlachten
„Der Angriff gewinnt Spiele. Die Verteidigung gewinnt Meisterschaften.“ Meist sind es die kurzen knappen Fußball-Binsen, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, die das Spiel so gut beschreiben, wie kein noch so gut gemeinter Leitartikel. Wer am letzten Mittwoch Alexander Heintze spielen sah, weiß: Es ist was dran an der grenzenlosen Kraft der Verteidigung. Grätschen bis die Schulter aus dem Gelenk springt. Oder: Gib mir den Ball, ich gebe Dir meine Schulter dafür. Abwehrspieler sind Helden des Spiels – aber nicht die einzigen. Denn wer aber am letzten Mittwoch auf einer der beiden Geraden des Tivoli stand, muss die Eingangsthese noch um eine wichtige Erkenntnis ergänzen. Denn wenn der Angriff Spiele gewinnt und die Verteidigung Meisterschaften, dann gewinnt das Publikum Schlachten.
Keine Frage: Gerade in Aachen ist es ein tiefer Einschnitt in die Fan-Seele, wenn Stehplätze geschlossen bleiben und der Support aus gelben Sitzschalen einen Weg in die Venen der Mannschaft finden muss. Das ist wie Sex auf einer Pritsche – schon auch geil, aber eben irgendwie mühsam. Was sich aber gar nicht mal so schlecht anfühlt, ist die Unterstützung von der Gegengerade aus. Denn das wiederum ist in der DNA eines Alemannen ziemlich fest zementiert. Nicht umsonst leisteten sie einst den bedingungslosesten Beitrag zum Spiel aus dem berüchtigten S-Block, der Gerade schlechthin, wenn es darum ging, Schlachten zu gewinnen. Als ich das erste Mal dort stand, ging es gegen Wattenscheid und Peter Sendscheid hatte gerade seinen Abschied verkündet. Das Spiel ging deutlich verloren und es machte die Verschwörungstheorie die Runde, dass auch dieses Mal bei Alemannia niemand aufsteigen wolle. Dieses Spiel damals konnte selbst der S-Block nicht gewinnen, weshalb die Härtesten der Harten auch daran dachten das Spielfeld zu stürmen, was sie nicht taten, weil es ihnen am Ende wohl doch eine Spur zu heilig war. Ich war danach nicht mehr oft im S-Block, beobachtete ihn viel mehr anerkennend aus der Ferne. Denn er schlug Schlachten und einige gewann er sogar. Egal ob er nur zur Hälfte besetzt war, wie in einem Regionalligaspiel gegen Remscheid oder ob er zur Gänze gefüllt war, wie im stimmungsvollsten Spiel der Bundesliga-Episode gegen Werder Bremen.
Ein bisschen erinnerte ich mich am letzten Mittwoch an diesen Block, als viele Alemannen dazu gezwungen wurden auf die beiden Geraden auszuweichen, weil hinter dem Tor der Wind mit sich alleine blieb.
Alles schien wie immer bei Alemannia. Nach einer starken ersten Hälfte bei der leider nur ein Tor heraussprang, ging das Spiel in der zweiten langsam aber sicher den Bach runter – so wie nur Alemannia Spiele aus der Hand zu geben pflegt. Und genau das durfte nicht sein in diesem Spiel gegen einen Gegner, der unbedingt auf Abstand gehalten werden musste. Das wussten alle, die trotz Kälte, Regen und einer steifen Brise den Weg zum Tivoli gefunden hatten. Es war die Angst vor dem, was sie schon Hunderte Male erlebt hatten, die plötzlich alle verband. Und so entstand gut 20 bis 25 Minuten vor Abpfiff ein Schulterschluss, den ich in zwei pandemischen Jahren voller Livestreams und Geisterkicks schon fast vergessen hatte. Das Publikum gewann eine Schlacht. Gesetzte Männer, junge Frauen, pickelige Teenager, verpeilte Chaoten, alte Hasen – sie alle fanden zusammen und gaben der Mannschaft, was sie brauchte: totalen Support! Sicher war es schon mal lauter auf dem Tivoli. Sicher war es schon mal enthusiastischer. Aber so entschlossen war es eher selten, weshalb es sich direkt auf die Mannschaft übertrug, die nun mit Hingabe fightete, als ginge es um ihr Leben und gar nicht so sehr um das der Menschen auf den Rängen. Und als würde es jemand lenken, kam es tatsächlich ganz kurz vor dem letzten Pfiff des Spiels zum erlösenden Moment des zweiten Tores, der auf den Rängen und auf dem Rasen alle Dämme brechen ließ. Geballte Fäuste, fließende Tränen, Erleichterung de Luxe. Die Schlacht war gewonnen. Der Fußball, der mir in den letzten zwei Jahren so sehr gefehlt hatte, er war wieder da. Der Angriff gewinnt Spiele. Die Verteidigung gewinnt Meisterschaften. Und das Publikum gewinnt Schlachten – meist im Stehen, manchmal aber auch im Sitzen.