Sechs-Punkte-Spiele
Als mir das erste und eigentlich auch einzige Mal das Herz gebrochen wurde, spielte Pearl Jam „Go“ und Alemannia verdammt viele Fehlpässe. Ich fand das damals nur konsequent. Was hätte sie auch sonst machen sollen? Allein aus Gründen der Wahrscheinlichkeit, wäre es schon seltsam gewesen, wenn Alemannia ausgerechnet in diesem Moment eine ähnlich gute Phase wie Eddie Vedder gehabt hätte. Stattdessen verschwanden Günther Delzepich und Johannes Kau genauso aus meinem Leben wie sie es tat. Sie war ein Sechs-Punkte-Spiel – eines von der Sorte, das Du besser nicht verlieren solltest. Ich verlor es trotzdem, nachdem ich eigentlich ganz gut angefangen hatte. Im Nachhinein weiß ich: Es war nicht zu gewinnen, weshalb ich auch nicht ganz sicher bin, ob sie wirklich ein Sechs-Punkte-Spiel war oder nicht doch eher der utopische Traum vom internationalen Geschäft, vom unerreichbaren Glamour des Santiago Bernabéu oder des Camp Nou. Wahrscheinlich eher das – denn nachdem sie mich verließ, zog sie weiter und ließ mich zurück – etwas, das Alemannia übrigens nie getan hat, egal in welcher schlechten Phase sie sich auch befand. Alemannia spielte immer stoisch in meiner Liga, was man ihr hoch anrechnen muss nach all den Jahren. Sie allerdings spielte drei Ligen zu hoch für mich. Ich betrank mich eine Zeit lang, was half.
Seit damals habe ich tendenziell Angst vor Sechs-Punkte-Spielen, jenen Spielen, in denen Du viel zu gewinnen, aber noch viel mehr zu verlieren hast. Natürlich geht es in diesen Spielen letztlich auch nur um drei Punkte, aber rein emotional eben um deutlich mehr – um das Doppelte, wenn man es genau nimmt. Wobei, so einfach ist es auch wieder nicht. Denn der gewiefte Statistiker würde leicht genervt abwinken und darauf hinweisen, dass es im Grunde immer nur um drei Punkte geht – egal auf welchem Spielfeld. Und das ist ja auch nicht ganz falsch. Nur: Verlierst Du Sechs-Punkte-Spiel, verlierst Du gefühlt viel mehr als nur ein Spiel. Gewinnst Du sie, gibt es tatsächlich nur drei Punkte dafür. Klingt kompliziert? Ist es auch. Aber wenn es einfach wäre, könnte es ja jeder.
Derzeit stehen viele solcher komplizierten Spiele auf unserem Spielplan – bei Alemannia und auch sonst. Das macht es wie gesagt nicht gerade einfacher. Denn im Grunde wird so jede Torchance zur Sechs-Punkte-Chance, jede Grätsche zur Sechs-Punkte-Grätsche und jede Einwechslung zum Sechs-Punkte-Joker. Selims Elfmeter gegen den Bonner SC wurde so zum Sechs-Punkte-Elfmeter, was all die verzweifelten Gesichter auf der Gegengeraden erklärt, als er an den Handschuhen des Bonner Torwarts zerschellte. Weil er ihn nach links und nicht nach rechts schoss, wurde er nachträglich zum faden Ein-Punkte-Elfmeter. Wobei wir uns schon auf dem Heimweg vom Tivoli zum Parkplatz tapfer einredeten, dass dieser eine Punkte am Saisonende vielleicht noch mal wichtig werden könnte. Das wiederum ist die Ein-Punkte-Flucht – die immer dann zur Anwendung kommt, wenn eben ein Sechs-Punkte-Spiel nicht gewonnen werden kann, aber auch nicht verloren geht. Die hätte zum Beispiel in Mönchengladbach gutgetan – noch so ein Sechs-Punkte-Spiel, von dem aber gar nicht mehr wichtig werden könnte am Ende der Saison, außer vielleicht die zwei geschossenen Tore – wer weiß das schon?!
Wenn Alemannia also heute gegen die Sportfreunde Lotte spielt, dann geht es um sechs Punkte wie sie im Buche stehen. Alemannia selbst auf einem Abstiegsplatz, der Gast einen Platz dahinter. Eines der Spiele, bei dem Du schon mit leichtem Magengrummeln wach wirst. Eines, bei dem jeder Pass, jeder Abschluss, jeder geblockte Schuss zur Sechs-Punkte-Aktion wird. Eines, bei dem vielleicht am Ende nur ein Punkt übrigbleibt, der noch einmal ganz wichtig werden könnte. Eines, bei dem Dein Herz brechen könnte. Gehen wir es an.
Diese Kolumne erschien anläßlich des Sechs-Punkte-Spiels der heiligen Alemannia aus Aachen gegen die Sportfreunde Lotte. Heimat der Sechs-Punkte-Kolumne war das Tivoli Echo.