Fernschuzelac

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 25.03.2022
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Fernschuzelac

Die Legende sagt, dass immer dann, wenn irgendwo auf der Welt ein Fernschuss die Maschen eines Torknicks küsst, in Aachen ein Mann namens Günter Delzepich kurz aber anerkennend den Oberschenkel anspannt.

Mein bester Fernschuss gelang mir vor gut einem Vierteljahrhundert nach einer Vorlage des Lebensmittelstürmers. Ich versenkte also keinen ruhenden Ball, sondern einen, den ich erst einmal verarbeiten musste. Es war meine beste Phase als Fußballer – eine Phase, die genau drei Spiele, in denen ich ununterbrochen traf, anhielt. Begonnen hatte sie mit einem Abstauber in der ersten Partie, gefolgt von einem weiteren Abstauber sowie einem überlegten Abschluss in der zweiten. Ihr Ende nahm sie schließlich mit diesem Fernschuss, der sich nach verklärenden Jahrzehnten, die seitdem vergangen sind, in etwa so abspielte: Mit dem ersten Kontakt und so geschmeidig, als hätte ich in Olivenöl gebadet, ging ich mit dem Ball am Fuß durch zwei Gegenspieler hindurch. Diese hinter mir lassend, holte ich den ganzen Körper zu einem Katapult verformend aus und schoss das Leder in Überschall-Geschwindigkeit direkt in den Knick. Irgendwo in Aachen spannte Günter Delzepich kurz den Oberschenkel an und ich drehte souverän jubelnd ab. Hatte ich den ersten Treffer meiner Serie noch mit einem etwas zu enthusiastischen Knierutscher auf der mich bremsenden Asche gefeiert (und anschließend mit zwei Tuben Bepanthen behandeln müssen), drehte ich nun fast beiläufig ab, ballte kurz die Faust und tat so, als müssten sich die 10 bis 15 Zuschauer in der Stockheimer Gewerbegebiet-Arena ab sofort jede Woche auf derart brillante Sahnestückchen einstellen. 

Fernschüsse sind – wenn sie denn funktionieren – genau das: brillante Sahnestückchen. Und sie sind deshalb so besonders, weil sie eben auch die Gefahr des knallharten Scheiterns in sich tragen. Denn nicht viel im Fußball ist beißender als der Spott, der sich hinter Wellenbrechern Bahn bricht, wenn ein Fernschuss nichts ins Tor, sondern in die Umlaufbahn darüber befördert wird. Und das passiert leider deutlich häufiger als etwa so eine Sternstunde im Anschluss an einen Pass des Lebensmittelstürmers. „Atmosphärenschießen“, nannten wir das früher immer dann, wenn es wieder einmal jemandem passierte. 

Alemannia konnte Fernschüsse gefühlt schon immer. Wo sonst außer am Tivoli sollten Fernschüsse auch besonders gerne in den Winkel oder unter die Latte fliegen, als an dem Ort, an dem einst Günter Delzepich nicht das Speiseeis, sondern eben den Fernschuss erfand? Wer alt genug dafür ist, raunt noch heute leise Seufzer der Begeisterung vor sich hin, wenn er an eine dieser Spielszenen denkt, als der Mensch gewordene Oberschenkel einst schon kurz nach der Mittellinie zum satten Torschuss ausholte. Niemand, der seinerzeit auf den Holztribünen des guten alten Tivoli stand, hielt eine vielleicht für andere Fußballstandorte etwas gewagte Entfernung für ein ernstes Hindernis. Vielmehr wurde Delzepich vehement zum Fernschuss aufgefordert, wenn er in ungefähr 45 Meter Entfernung zum gegnerischen Tor an den Ball kam. Unauslöschlich hält sich daher auch bis heute die großartige Anekdote nach der Delzepich einst die Wette verlor, einen Medizinball von der Sechszehnmeterlinie direkt ins Tor zu schießen, ohne dass dieser vorher den Boden berühre. Das Ergebnis: Er verlor, weil er das schwere Geschoss kurzerhand über das Tor beförderte. Dass Delzepich die Anekdote später als Zeitungsente outete, machte sie schließlich nur noch umso reizvoller. Denn was wären Legenden ohne Legenden? Dass Oli Kahn noch heute zornig in seine Zahnbürste beißt, wenn er ab und an bei der Morgentoilette an Stefan Blank denkt, mag auch so eine Legende sein – eine allerdings, die mir so gut gefällt, dass ich sie bis heute gerne erzähle.

Wie auch immer – letzte Woche, in diesem vom ständigen Wind arg gebeutelten Wegberg-Beeck erwachte der gute alte Alemannia-Fernschuss aus einem langen und heftigen Tiefschlaf. Augenzeugen behaupten gar, er sei am letzten Samstag unter Pauken und Trompeten wiederauferstanden. Der Heiland, der ihn reanimierte, trägt den Namen „Uzelac“, der Legende nach, das kroatische Wort für „Fernschuss“. Mit dem Wind des Delzepich im Rücken schickte Alemannias Nummer Vier das Wegberger Leder zunächst aus gut 25 Metern mit gefühlten 180 Kilometern pro Stunde ins rechte obere Dreieck. Und wie, um das Denkmal des Nachmittags noch ein bisschen fester in die Aachener Fan-Seele hineinzuzementieren, legte Frank Fernschuzelac ein paar Minuten später noch einmal gut 40 km/h drauf und schickte die nächste Fackel in den gleichen Knick wie schon den ersten Treffer. Zwei irre Fernschüsse, die drei Punkte sicherten und neue Hoffnung in einem nervenzerschmetternden Abstiegskampf machten – schon jetzt zwei Fernschüsse für die Ewigkeit. Als ich sie sah, dachte ich kurz an meine Sternstunde nach dem Pass des Lebensmittelstürmers zurück. Und wenn mich nicht alles täuscht, spannte irgendwo in Aachen ein Mann namens Delzepich kurz aber anerkennend seinen Oberschenkel an. Was wären Legenden ohne Legenden?

Diese Kolumne erscheint im Tivoli Echo zum Heimspiel der wunderschönen Alemannia aus Aachen gegen Rödinghausen. 

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker