Crunch-Time
Als Alemannia letzte Woche gegen Rot-Weiß Essen spielte, verbrauchte ich mein komplettes Datenvolumen, um am Strand mit meinen Jungs unseren Alles-oder-Nichts-Punkt feiern zu können. Nur einen Tag vorher hatte ich mit gut 20.000 wilden Insel-Spaniern im Estadi de Son Moix einen hart umkämpften Alles-oder-Nichts-Sieg im Abstiegskampf der dortigen Heimmannschaft gegen Diego Simeones Betonmischer schwer abgefeiert. Jene abgewichsten Betonmischer, die ich wiederum drei Tage später erneut im Champions League Viertelfinale in einer Kneipe verfolgte, die sich nicht ohne Grund „Blue Bar“ nannte und nennt, weil nämlich in ihr die Gäste von einer rüstigen Irin rigoros abgefüllt werden. Gemeinsam mit einer ebenfalls trinkfesten Gruppe aus Dänen und Engländern sahen wir in der Schlussphase 22 Millionären prostend dabei zu, wie die in der Nachspielzeit, in der es schon wieder um Alles-oder-Nichts ging, nur von der Guardia Civil höchstpersönlich daran gehindert werden konnten, sich ordentlich vor die Pumpe zu zimmern. Punktgewinne am Strand, Abstiegskampf an Urlaubsorten und Hauereien in der Königsklasse – es ist Ende April und für Fußball-Fans bedeutet das: Die Crunch-Time ist angebrochen. Das ist die Zeit, in der jeder Fehlpass, jede falsch angesetzte Grätsche, jede Schiedsrichter-Entscheidung und jede verpasste Torchance jedwede Hoffnung zerstören und alle Träume auslöschen kann. Es ist aber auch die Zeit, in der unsterbliche Helden geboren werden, die Tore schießen oder verhindern, die mehr Macht haben als Luke Skywalker und sein Vater zusammen. Kurz: In der Crunch-Time geht es um Alles oder Nichts.
Einer der größten Crunch-Time-Momente, an die ich mich erinnern kann, ist zweifellos das Tor von Mario Krohm gegen den SC Verl im letzten Jahr des vergangenen Jahrtausends, was sich weit weg anhört, mir aber so vorkommt als sei es gestern gewesen – jetzt, wo ich gerade darüberschreibe. Frank Schmidt hatte erst in der 87. Minute per Elfmeter zum 1:1 ausgeglichen. Hätte mir zu dem Zeitpunkt einer gesagt, dass wir das Ding sogar noch gewinnen, hätte ich ihm wahrscheinlich geantwortet, dass das ungefähr so wahrscheinlich sei, wie die Aussicht darauf, dass Schmidt einen Ort wie Heidenheim irgendwann mal größer mache als dieses gleich tobende Aachen. Trotzdem oder gerade so, als wusste es Stephan Lämmermann schon damals besser, bereitete dieser zum wahrscheinlich einzigen Mal in seinem Leben einen Treffer mit dem Hinterkopf vor. Von dem sehr niedrig angelegten Kopf Lämmermanns prallte das Leder direkt zum sich gleich danach unsterblich machenden Mario Krohm. Der war zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere eigentlich immer in der Lage, eine Großchance liegen zu lassen. Doch nicht dieses Mal – nein, dieses Mal versenkte er die Pille fast schon beängstigend souverän, wenn ich mich recht erinnere, sogar mit dem linken Fuß (dem schwächeren seiner zwei schwachen). Danach startete er zum Jubellauf seines Lebens am tobenden S-Block vorbei, wo die Menschen in wilden Szenen übereinander purzelten. Ein Moment für die Ewigkeit. Ein Tor für die Ewigkeit. Crunch-Time. Die drei Punkte blieben in Aachen, Alemannia stieg ein paar Wochen später auf.
Als Ergün Yildiz am letzten Samstag irgendwo aus der Yildistanz genau in den Knick traf und ich kurz nach meinem Urlaub mit einer mittelschweren Bronchitis, die ich wohl aus der Blue Bar mitgebracht hatte, auf dem Sofa lag, spuckte ich fast meinen Hustensaft wieder aus. Denn da war wieder so ein Moment. Denn mal ehrlich: Bis dahin hatte ich den guten Mann eher als Mittelgewichtler denn als Mittelstürmer verortet. Doch dann schickt genau dieser Mittelgewichtler einen Strahl aus seinem Fuß in Richtung gegnerisches Tor, das auch noch ausgerechnet in einem Ort namens Straelen steht. Und um den Moment perfekt zu machen, trifft er den Winkel so dermaßen genau, dass aus jeder Bronchitis auf der Stelle wieder ein ganz normaler Husten werden muss. Es gibt Tore, die kannst Du nicht erfinden. Das erledigt die Crunch-Time für Dich. Und wenn mich der Strahl von Straelen nicht täuscht, ist die dieses Mal save auf unserer Seite. Keine schlechten Voraussetzungen, wenn es um Alles oder Nichts geht.
Diese Kolumne erschien zum Heimspiel der großen Alemannia aus Aachen gegen die Zweite des 1. FC Köln.