Der kleine Koké
Vor kurzem war ich bei einem sehr entspannten Spiel. Die Sonne strahlte mir bei gut 20 Grad auf den Pelz, um mich herum lauter gute Leute und zum Aufwärmen hatte ich vorher schon eine Schinkenplatte mit ein paar spanischen Bieren runtergespült. Real Mallorca spielte zu Hause gegen Atlético Madrid und im Grunde war es mir gleich, wer den Kick gewinnen würde. Es genügte mir die Atmosphäre aufzusaugen, mir eine Meinung zum portugiesischen Jungstar im Atlético-Trikot zu bilden und den lieben(Fußball)gott einen guten Mann sein zu lassen – kurz: einfach mal ein Nachmittag aus dem Bilderbuch in der Primera Division genießen, ganz ohne Existenzkampf in der Regionalliga West gegen so Totengräber aus Bonn, Lotte oder Wuppertal. So ein bisschen Griezmann soll ja gut für den Teint sein und so kehrt man dann ja auch ausgeruht zum hitzigen Saisonfinale zurück.
Diese Entspannungstaktik funktionierte auch lange gut, bis ich so Mitte der ersten Halbzeit den kleinen vielleicht achtjährigen Jungen neben mir bemerkte, der den vor sich hin plätschernden aber Kick ganz anders aufnahm, als ich das in meinem roten Schalensitz aufreizend lässig tat. Er trug ein Atlético-Trikot mit der Rückennummer 8 und dem Schriftzug „Koké“ auf dem Rücken, hatte einen leicht unvorteilhaften Haarschnitt, dem man ihm in seinem Alter aber nicht vorwerfen sollte und saß an der Seite seines Vaters, der ihm in regelmäßigen Abständen beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Das tat er aus gutem Grund, denn sein Sohn war äußerst aufgewühlt. Er hielt seine Hände zum Gebet gefaltet vor der Brust und begleitete jeden der vielen Fehlpässe seiner Mannschaft mit einem langen Seufzer. Die beste Torchance Atléticos war ein Weitschuss, der drei Meter neben dem Tor ins Aus trudelte. Für ihn war der Kullerschuss allerdings weit mehr als ein kläglicher Schussversuch. Er sprang aus seinem Sitz und raufte sich die Haare als sei das Leder gerade in Überschallgeschwindigkeit und nur um Millimeter am gegnerischen Tor vorbeigerast. Als Mitte der zweiten Halbzeit der Abstiegskandidat aus Mallorca einen zweifelhaften Elfmeter zugesprochen bekam und diesen dann auch noch verwandelte, wurde das vorher sehr entspannte Stadion zu so etwas wie einem Hexenkessel. Die Heim-Fans standen nun wie eine Wand hinter ihrem Team – eine Atmosphäre, auf die ich gehofft hatte als ich mir die Karten für viel zu viel Geld geleistet hatte. Alle im Stadion standen nun auf ihren Schalensitzen, nur dieser kleine Koke neben mir kauerte sich immer mehr in seinen hinein. Als ich kurz zu ihm rüber schaute, weinte er schon bittere Tränen, obwohl noch 10 Minuten zu spielen waren. Sein Vater fuhr sich nervös und ebenfalls schon leicht resignierend durch die Haare. Wahrscheinlich wusste er, dass das Wochenende für seine komplette Familie gelaufen war. Ich merkte, wie ich innerlich all die Griezmanns, all die Felix, all die Suarez und vor allem all die Kokés verfluchte. Dieser kleine Junge war nur wegen ihnen hierhergekommen, während sie auf dem mallorquinischen Rasen dort unten spazieren gingen und schließlich auch bis zur letzten Sekunde jede Torchance verweigerten. Als der Schiedsrichter abpfiff und der größte Teil der Zuschauer laut jubelte, vergrub der keine Koké neben mir sein Gesicht in den Händen. Er weinte laut und ohne jede Hemmung. Es war der Schmerz eines kleinen Fußballfans, den ich in dieser Form schon lange nicht mehr gesehen hatte und der mich beeindruckte. Ich überlegte, was ich tun sollte. Da sich mein Spanisch aber auf den Satz „Maria vas a la farmacia“ (Maria geht in die Apotheke) beschränkt, hatte ich wenig Ansatzpunkte. Gerne hätte ich ihm von Alemannia erzählt, von der Regionalliga West und davon, dass es noch viel schlimmer sein könnte als er das je für möglich halten würde. Aber dann war ich froh, dass ich das nicht konnte. Denn mir wurde gerade noch rechtzeitig klar, dass ihm das herzlich egal sein würde. Zudem blieb er auch nicht mehr lange. Sein Vater nahm ihn in den Arm, drückte ihn noch einmal, schaute noch einmal vorwurfsvoll runter auf den Rasen, wo der echte Koké vom Platz schlich, und ging dann mit seinem Sohn nach Hause.
Keine Frage: Fußball ist so viel mehr als nur ein Spiel. Du verliebst Dich in ihn und in ein Team, wenn Du ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen bist. Dann schickst Du während des Spiels Stoßgebete zum Himmel und weinst, wenn es schief geht. Nichts aber auch gar nichts am Spiel ist Dir egal. Nichts ist wichtiger. Später wirst Du abgeklärter, nimmst Niederlagen hin, weil Du schon so viele erlebt hast und weil Dir auf dem Weg zu viele Menschen gesagt haben, dass es wichtigeres gibt als diese 90 Minuten da unten. Und dann geht das Flutlicht an, auf der anderen Seite steht irgendein Gegner – von mir aus Wuppertal. Und dann wird es angepfiffen, dieses wunderschöne Spiel. Und manchmal gewinnt Deine Mannschaft sogar und all die Tränen sind vergessen. Letzte Woche gewann Atlético ein Spiel in der 94. Minute. Ich sah es im Fernsehen und ich dachte an den kleinen Koké, wie er jetzt wohl jubeln würde und wie erleichtert sein Vater sein würde. Und da dachte ich, dass ich ihm doch von Alemannia hätte erzählen sollen.
Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo zum Heimspiel der wundervollen Alemannia gegen den Wuppertaler SV.