Heimsieg am Europaplatz

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 04.11.2022
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Heimsieg am Europaplatz

Als Jannik Mause am letzten Samstag um circa halb vier auf den gegnerischen Kasten zulief, war mir eigentlich völlig klar was passiert. Nicht dass ich mich entspannt in meinen Schalensitz zurückgelehnt und an meinem Bierbecher genippt hätte, aber Stoßgebete gen Himmel mussten es dann auch nicht sein, um das Leder von Janniks rechtem Fuß in die Maschen zu wünschen. Ich wusste es da nämlich schon besser, im Prinzip schon seit viertel nach eins. Alemannia würde den Clash gegen Lippstadt gewinnen – klarer Fall und kein Grund unruhig zu werden, auch wenn der Wehenschreiber schon die 86. Minute schrieb. So richtig spannend wird es bei Heimspielen nämlich weniger im gegnerischen Strafraum oder gar in hitzigen Schlussphasen. Der ultimative, weil vorentscheidende Nervenkitzel findet in Wahrheit auf den letzten Metern der A4 eine gute Stunde vor dem Anpfiff statt. Die Entscheidung, ob Alemannia gewinnt, fällt genau dann, wenn sich die lange Kurve zum Europaplatz endlich dem Ende zuneigt und vor dem angespannten Alemannia-Auge der Europa-Platz auftaucht. Denn immer, wenn hier die Fontäne im Springbrunnen sprudelt, ist der Heimsieg so gut wie eingetütet. Sprudelt sie dagegen nicht und windet sich der komplette Brunnen wie eine öde Betonschüssel über den Platz, hat Alemannia zwar auch nicht gleich verloren, aber dann wird es eben eng und manchmal dann auch zu eng. Unterschätzt mir den Alemannia-Brunnen am Europaplatz nicht! 

Als wir zum Spiel gegen Lippstadt fuhren wussten wir um dessen Karma und waren entsprechend nervös – na klar, schließlich ging es um nicht weniger als um Platz 3 und das, was sie in der katholischen Kirche bei Hochzeiten, Todesfällen oder Kommunionen gleichermaßen penetrant „Senfkorn Hoffnung“ nennen, ohne Alemannia damit zu meinen (glaube ich jedenfalls, ohne natürlich ganz sicher zu sein). Und genau diese Hoffnung war unbarmherziger Beifahrer auf dem Weg zum Lippstadt-Spiel. Schon in Würselen verstummten deswegen so ziemlich alle Gespräche im Auto. Alle wussten: Gleich geht´s um die Wurst. Kurzer versonnener Blick nach rechts auf die gelben Dächer des Stadions, die rothe Erde rechts liegen lassen und dann alle Blicke nach vorne gerichtet. Atem anhalten. Und dann großer, lauter, ekstatischer, erleichterter Jubel, geballte Fäuste und ein High Five nach dem nächsten. Der Brunnen zeigte sich von seiner besten Seite. Die Alemannia-Fontäne sprudelte, was das Zeug hielt. Lippstadt war erledigt, wusste es nur noch nicht.

Alemannia riecht zum ersten Mal seit gefühlten Jahrzehnten sogar zart an ein bisschen mehr als diesem dritten Platz, auf dem sie momentan steht. Und das bedeutet: Es ist wieder die Zeit für Aberglauben und das große Vertrauen ins Mythische am Tivoli. Denn immer, wenn Alemannia beginnt, Deine Träume zu bedienen, dann kommt selbst der kleinsten Geste, dem scheinbar unbedeutendsten Detail plötzlich größte Bedeutung zu. Alles und jeder hat Einfluss darauf, wie sie spielen, ob sie gewinnen und wie sehr die großen Träume vom Ende der Misere in der ungeliebten Liga weiterblühen dürfen. Keine Ahnung, wie viele Tore wir Ende der Neunziger mit schlecht schmeckenden Kippen reinrauchten, wie viele gegnerische Angriffe wir nur deswegen stoppten, weil wir eine schlecht sitzende Mütze zur unschlagbaren Heimspielmütze und damit zum entscheidenden Faktor erklärten oder wie oft wir uns leicht wässrige Bockwürste reinschoben, obwohl der Appetit auf Bratwürste doch um so viel größer war, nur weil beim letzten Mal die Bockwurst es war, die den letzten Pass in Lämmis Fuß möglich machte. Kann es da Zufall sein, dass genau dieser Bockwurst-Lämmi plötzlich wieder an der schwarz-gelben Seitenlinie steht? Natürlich nicht! Genau so wenig war es nur eine unbedeutende Spieltagslaune, dass wir uns darauf basierend vor dem Spiel glasklar für eine Bockwurst und gegen die Bratwurst an der Wurstbude unseres Vertrauens entschieden – natürlich nur, um dem Springbrunnen-Effekt noch ein bisschen Nachdruck zu verleihen. Sicher ist sicher.

Seien wir ehrlich: Solange wir für epische Heimsiege nur eine Zigarette rauchen oder eine Bockwurst verhaften müssen, dann machten wir das eben. Natürlich machten wir das – das sollten uns blühende Träume von mehr schon wert sein. Nicht mehr und nicht weniger. Schön, dass Alemannia gerade wieder so weit ist, dass man bei einem Springbrunnen nicht an Wasser, sondern an Heimsiege, bei Tabak nicht an Qualm, sondern an Siegtore und bei Bockwürsten nicht an Senf, sondern an Senfkörner denkt. So kann man dann auch ganz entspannt sein, wenn Jannik Mause völlig frei auf den gegnerischen Kasten zuläuft. In dem Moment ist nämlich schon längst alles entschieden. 

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker