Köpenicker Grätsche
Eigentlich interessiert mich der große Bundesliga-Fußball nicht die Bohne – nicht mehr. Denn saß ich früher in der Garage meines Vaters, um die wunderbare Radio-Schlusskonferenz aus der Feder des großen Dietmar Schott zu hören und zog mir später jeden Spieltag im Bezahlfernsehen rein, steige ich heute nur noch ein, wenn aber auch gar nichts anderes anliegt. Zehn Deutsche Meisterschaften des FC Bayern hintereinander haben mich zermürbt. Champions League-Plätze für Getränke-, Medikamenten- und Automobil-Hersteller sind letztlich auch nicht das, was ich vom Wochenende erwarte. Zwar holt mich immer noch der gute alte Abstiegskampf ab, etwa dann, wenn sich in Schalke 4.000 Leute um einen Flutlichtmast herum versammeln, um ihre Mannschaft anzustacheln. Aber das trägt am Ende eben auch nicht lange, wenn Dein Herz nicht blau-weiß schlägt. Also schaue ich die erste Liga im Grunde nur dann, wenn ich Sonntagmorgens leicht verpeilt vom Bett zum Sofa wanke und eine parallele Beschäftigung zum Wachwerden brauche. Das Gute daran: Manchmal treffe ich dort meinen mittlerweile fast volljährigen Sohn, der aus anderen Gründen genauso mit der Bundesliga umgeht. Junge Menschen wie er brauchen das unmittelbare Live-Erlebnis grundsätzlich nicht so sehr wie meine Generation. Sie streamen, was sie möchten, wann sie es möchten. Gut so. Ihr Ding. Und umso besser, wenn man sich in seinen Gewohnheiten am Ende dann doch über den Weg läuft und sei es eben an einem müden Sonntagmorgen.
Als ich zuletzt an einem dieser Sonntage mit ihm die Zusammenfassung des letzten Bundesliga-Spieltags repetierte, passierte fast unbemerkt, weil eben noch leicht im Halbschlaf, bemerkenswertes. Kevin Behrens grätschte oben in Berlin-Köpenick ziemlich entschlossen einen Ball über die Linie, der vorher an gefühlt zwei Abwehrreihen vorbei quer durch den Sechszehner geflogen war. Jener Behrens, so schien es, behielt als einziger den Überblick und wuchtete das Bundesliga-Leder so dermaßen entschlossen über die Linie, dass es mich sogar noch einen Tag danach und gute 600 Kilometer entfernt um ein Haar aus dem Sofa gefräst hätte. Nachdem ich mich mühsam wieder gefangen hatte, schüttelte ich ungläubig den Kopf und sagte eine Spur zu resignierend und auf jeden Fall leicht traurig in Richtung Sohn: „Der hat früher mal bei Alemannia gespielt!“. Bei dem, was da in Berlin passierte, war das eigentlich unglaublich, denn Behrens Husarenritt über der Grasnarbe bedeutete die Tabellenführung für Union Berlin – wenigstens für eine Nacht. In dieser uninteressanten Bundesliga-Welt war das ausnahmsweise mal so etwas wie ein Hingucker – so was wie ein Nummerngirl, das mitten im Sechswochenamt eines entfernten Onkels plötzlich oben auf der Kanzel auftaucht. Ein Nummerngirl namens Behrens, der früher für Alemannia gegen Rot-Weiß Essen traf und das wahrscheinlich längst vergessen hat. Klar, dass ich auf dem heimischen Sofa in Richtung Nachwuchs auf diese besondere Alemannia-Pointe hinwies. Man muss die kommende Generation mit solchen Dingen anekdotisch bei der Stange halten. Aber anstatt einer verzückten oder zumindest anerkennenden Reaktion aus seiner Sofa-Ecke, kommentierte er Behrens und seine Vergangenheit völlig souverän mit einem wissenden „Ich weiß“. Eigentlich kein Wunder, schließlich hatte er Behrens tatsächlich noch selbst am Tivoli spielen sehen, was mit wieder einmal zeigte, wie alt wir beide doch in den letzten Jahren geworden sind. Oder anders gesagt: Der Junge ist schon lange genug im Geschäft, um zu wissen: Alemannia ist irgendwie immer dabei, selbst wenn es um die Tabellenführung in der Bundesliga geht. Es würde mich sogar nicht wundern, sollte er seine Kollegen in der Schule am darauffolgenden Montag im Sport-Unterricht mit dem gleichen schalen Unterton seines Vaters auf Behrens und dessen Tor hingewiesen haben. Aber vielleicht ist er am Ende für solche Dinge auch viel zu souverän, weil er weiß, wo seinen alten Herren solche Tore wie dieses hier von Behrens hingebracht haben – mitten in Tagträume hinein, was alles möglich wäre mit so einem wie Behrens, der in einem Spiel hinten vier Ecken allein verteidigen und vorne drei Querpässe genauso allein verwerten würde, egal ob in Münster, Madrid oder Mailand. Hauptsache Italien.
Wie gesagt: Eigentlich interessiert mich der große Bundesliga-Fußball nicht die Bohne – es sei denn, einer wie Behrens spielt mit und grätscht plötzlich wie aus dem Nichts Traditionsvereine aus Berlin-Köpenick an den unvermeidlichen Bayern vorbei an die Spitze. Denn der hat früher mal bei Alemannia gespielt. Aber das wisst Ihr schon, oder?
Diese Kolumne erschien aus Anlass des Heimspiels der großartigen Alemannia aus dem nicht weniger großartigen Aachen gegen den Wuppertaler SV