Schmidt happens

TORWORT-Beitrag der Lesung vom 22. Juli 2023

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 24.07.2023
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Schmidt happens

Es war diese Party, bei der Fladenbrot mit Zimmermannsnägeln an die Wand genagelt wurde. Morgens um halb vier schlug noch jemand ein Fass an und niemand hielt das für eine schlechte Idee. Doktor Körner, der gar kein Doktor war, aber von allen so genannt wurde, trank ein Glas Wurstwasser, einfach weil er es konnte. Die wenigen Mädchen, die noch übriggeblieben waren, hofften trotz dieses desolaten Szenarios auf so etwas wie ein Wunder. Im Hintergrund lief Pearl Jam „State of Love and Trust“, der vielleicht beste Song der Neunziger. Ich lehnte in schlechten Klamotten in einem Türrahmen und redete mit meinem besten Kumpel Lars über Frank Schmidt, Alemannia Kapitän. Und plötzlich nahm die Sache Fahrt auf.Lesung

Frank Schmidt war Libero bei Alemannia, weil Viererketten in Deutschland Erich Ribbecks „Cup of tea“ waren. Auch ich war Libero gewesen, in der D-Jugend, eine halbe Saison lang. Vielleicht war Frank Schmidt ein anderes Kaliber als ich und trotzdem hatten wir dadurch eine Verbindung. Ich jubelte mit ihm, wenn er nach Standards für Alemannia traf und ich litt mit ihm nach Gegentoren, die selbst er nicht verhindern konnte. Ich war bei ihm, wenn er sich dann konsterniert am Pfosten abstützte. Ich liebte ihn, wenn er sich in solchen Momenten trotzdem wieder fing. Dann klatschte er immer in die Hände, schaute kurz so grimmig wie ich damals in der D-Jugend und warf den Ball zum Anstoß nach vorne. Es wäre zu viel gesagt, dass ich mich in ihm wiedererkannte. Eine fußballerische Seelenverwandtschaft war aus meiner Sicht aber nicht wegzudiskutieren.

Der einzige Mensch auf der Party, der sich in gleichem Maße für Frank Schmidt interessierte wie ich, war Lars und irgendwie kam es deswegen auch nicht überraschend, als der in einer kurzen Wurstwasser-Pause von Doktor Körner plötzlich rief: „Jetzt rufen wir ihn an! Ich muss ihm was sagen!“. Ich schreckte kurz auf, schaute rüber, nahm kurz die Uhrzeit – halb vier – in den Blick und antwortete: „Gute Idee!“ Da die Gastgeberin ihr Telefon noch nicht angemeldet hatte, machten wir uns also mit vier Bier bewaffnet auf zur nächsten Telefonzelle. Zu dieser Zeit hingen reihenweise Telefonbücher in diesen gelben Boxen und in einem stand sehr oft „Frank Schmidt“. Lars wählte eine der Nummer ohne zu zögern und wie durch ein Wunder war es die des richtigen Frank Schmidt. 

Er selbst schlief. Dafür hob seine Frau ab. Lars hielt den Hörer fest in der Hand, nahm einen tiefen Schluck und eröffnete mit dem Satz „Lassen Sie Frank bitte schlafen.“ Frau Schmidt lächelte das weg, was zeigte: Frank Schmidt hatte eines dieser Wunder erwischt auf das man drüben auf der Party vergebens wartete. Lars legte nach und sagte, was er zu sagen hatte: „Wir sind Schmidthappens! Sagen sie ihm das, wenn er morgen aufwacht. Wir rufen das ab sofort immer in jedem Spiel. Er soll darauf achten: Schmidthappens! Das ist wichtig!“ Frau Schmidt lachte und versprach, es ihm zu sagen. Wir unterhielten uns noch gut 5 Minuten mit ihr und waren bezaubert. Sie blieb freundlich ganz so als würde sie diese Gespräche jeden Morgen um halb vier führen, wünschte uns alles Gute und gab uns damit das Gefühl, dass der Anruf die absolut richtige Entscheidung gewesen war.

Ab da riefen wir es in jedem Spiel und auch wenn er nie zu uns in Block M hochschaute, wussten wir doch, dass er es wusste – eine telepathische Verbindung, die Alemannia irgendwie zusammenhielt. Schmidthappens. Wir registrierten E-Mail-Adressen mit dem Schriftzug, bedruckten T-Shirts in Copy-Shops damit und benutzten den Begriff fortan immer dann, wenn uns etwas gelang – ähnlich wie die Brasilianer „einssieben“ sagen, wenn ihnen etwas schlimmes widerfährt. 

Als Alemannia vor zehn Jahren abstieg, war Frank Schmidt längst weg. Stattdessen trainierte er – ausgeschlafen wie er war – den FC Heidenheim in die Bundesliga. Schmidthappens dort, Shithappens hier. Alemannia stieg ab und das ganz ohne tragischen Moment, ohne jede Dramatik. Er passierte einfach. Kein konsterniertes Anlehnen am Torpfosten. Kein in die Hände klatschen, kein verzweifeltes Aufbäumen auf dem Rasen oder den Rängen. Und auch keine dieser für Abstiege typischen desolaten Aktionen, die Dir den Verstand rauben. 

Ich selbst stieg erst diesen Sommer mit der A2 von Grün-Weiß Brauweiler ab. Wir hatten zwar knappe Siege gegen direkte Tabellennachbarn in knappen Kabinen gefeiert. Am Ende aber stiegen wir ab, weil unser Torwart im letzten Spiel nach einer harmlosen Rückgabe unseres Verteidigers, plötzlich und mitten in unsere Drangphase hinein, wie auf einer Bananenschale ausrutschte, den Ball im Fallen gegen den Kopf eines gegnerischen Stürmers hebelte, von wo aus er im Zeitlupentempo zum 1:2 über die Linie kullerte und so fünf Minuten vor dem Schlusspfiff den Gang in die Kreisklasse besiegelte. Shit happens oder einssieben, wie der Brasilianer sagt.

Alemannia verzichtete auf ein Drama wie dieses. Alemannia war 2013 einfach pleite. Sang- und klanglos. Shit happens. Keine Ahnung, ob solche spröden Abstiege besser oder schlechter sind als all die tränenreichen Last-Minute-Abstiege, die seit Jahrzehnten Herzen und Seelen zerstören. Was den Schmerz betrifft, sind Abstiege eine somatoforme Schmerzstörung. So jedenfalls erklärte es mir mal mein Hausarzt, der eigentlich Urologe ist und eine ganz astreine Prostatauntersuchung, nur mit einem weißen Stab und zwei Gummihandschuhen bewaffnet, aufs somatoforme Parkett legt. 

Vom Wiederaufstieg jedenfalls war Alemannia in all den Jahren bis auf eine Ausnahme so weit entfernt wie Alice Weidel bei aller nicht weg zu diskutierenden Ähnlichkeit vom Tempo eines Windhundes oder der Härte Krupp-Stahls. Es blieb also seitdem bei der Regionalliga West, der vierten Liga. Shit happens in Aachen. Gleichzeitig in Heidenheim alle so: „Alter – Schmidt happens!“ Irgendwas war ganz gewaltig schiefgelaufen in Aachen.

Vierte Liga – das bedeutet trostlose Nullnummern bei unnachgiebigen Regenschauern –noch nicht mal in Rostock oder Sandhausen, sondern in Straelen, Lippstadt oder Wegberg-Beeck. Vierte Liga – das bedeutet verwackelte Livestreams von Dorfplätzen mit Co-Kommentatoren gegen die sogar Mario Basler oder Didi Hamann die intellektuelle Tiefe eines Trent Crimms (The Independent) erreichen. Vierte Liga – das bedeutet verstörende Abnutzungskämpfe gegen frühere NLZ-Talente, die in einem Akt der fußballerischen Gnade in Zweitvertretungen von Bundesligisten geparkt werden, die sich das noch leisten möchten, nur um sie irgendwann doch nach Wuppertal, Oberhausen oder eben tatsächlich nach Aachen zu transferieren. Vierte Liga – das bedeutet Spielzüge wie: Einwurf – vertändelte Ballannahme des Stürmers – hilflose Alibi-Grätsche des involvierten Verteidigers – unglücklicher Abpraller nach Pressschlag– Reklamation beim Schiedsrichter – erneuter Einwurf – turmhohe Bogenlampe, „Hoch und Weit bringt Sicherheit“ – Ball titscht – Befreiungsschlag ins Aus – wieder Einwurf und das Ganze wieder von vorne, eine Endlosschleife, wie aus einem Marvel-Film, nur eben ohne einen einzigen Superhelden. Alemannia Aachen – das bedeutet: genau diese Regionalliga seit nun 10 endlosen Jahren. 10 Jahre Hoffnungsträger, die sich als Rohrkrepierer erwiesen, verpuffte Träume, vertändelte Chancen, geplatzte Aufstiegsträume schon im Februar, manchmal sogar im November. 

Doch diesmal wird alles anders. Am kommenden Freitag ist Mandela Day in der Regionalliga West – exakt 10 Saisons, nachdem alles begann und nun endet. Alemannia spielt das Eröffnungsspiel der Aufstiegssaison. Gegner: Wuppertal. Opfer! 

13 Abgänge und 15 Neuzugänge können einfach nicht lügen. Strujic, Winter, Afamefuna, Marquet, Brasnic, Herzog, Heinz, Hanraths, Schaub, Rumpf, Wilms, Müller, Scepanik, Ametov, Peters. Namen, die man sich merken sollte Und auf der 10, auf unserer 10 ganz ohne Scheiß: der Neffe von Samuel Eto´o. Plötzlich macht alles so viel Sinn. Schmidthappens.

Unser Trainer heißt zwar nicht Frank Schmidt, aber dafür Helge Hohl – einer dieser jungen Trainer mit so viel Zukunft wie nicht mal Dr. Emmet Brown sie in den Flux-Kompensator seines DeLorean hineinbauen konnte. Helge Hohl – unser Sanitäter in der Not. Helge Hohl, unser Fallschirm, unser Rettungsboot. Helge Hohl ist das Dressing für Deinen Kopfsalat, Helge Hohl, Helge Hohl, Helge Hohl. Schmidthappens, Helge Hohl!

Und wir werden im Stadion stehen und den Aufstieg feiern – 30.000, davon 10.000, die nie aufhörten hinzugehen und all die anderen trotzdem mit offenen Armen empfangen, weil sie eben wissen, wie schlimm es war und dass es durchaus eine lebenserhaltende Option war, wegzubleiben. 2024, im Mai ist es endlich so weit, wenn wir am letzten Spieltag gegen die Spielvereinigung Velbert antreten. Kein Torwart, der ausrutscht. Kein Pfosten, an der wir uns anlehnen müssen. Kein Regen. Kein Pressschlag. Keine Abpraller. Kein Wurstwasser. Keine Tränen mehr. Stattdessen Trent Crimm als Co-Kommentator und Helge Hohl als Dressing für Deinen Kopfsalat. Velbert-Tränen werden in unseren Augen stehen und übereinander kugeln werden wir uns. Einfach nur Schmidthappens. Und all der Dreck, all der Schmodder, all der Spot des letzten Jahrzehnts wird von uns abfallen. Und drüben in Heidenheim feiert Frank Schmidt den Klassenerhalt. Ein Blinder, der da kein Zeichen erkennt. Schmidthappens – jetzt oder nie.

Glücklich und mit jeweils zwei leeren Gläsern gingen wir zurück zur Party, wo das Wurstwasser ausgegangen war. Statt Pearl Jam lief jetzt „Fury in the Slaughterhouse“. Und während im Hintergrund nun “This is not the time to wonder” hämmerte, dachte ich, was für ein Scheiß-Lied. Doch dann sah ich zum Fass, wo Lars Doktor Körner gestenreich von unserem Telefonat erzählte. Ich lachte, riss mir ein Stück Fladenbrot von der Wand und wusste: „Schmidt happens!“. Nächstes Jahr im Mai. 

Dieser Text wurde anläßlich der großartigen TORWORT-Lesung am 22. Mai in der Hammond Bar zu Köln von TORWORT-MUDDA Sascha Theisen gelesen.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker