Schlechte Nachrichten für die Grasnarbe

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 01.09.2023
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Schlechte Nachrichten für die Grasnarbe

Die Scheiße im Fußball ist ja immer: Die anderen wollen auch gewinnen. Klingt zunächst simpel und fast ein bisschen übergriffig, macht das Ganze aber ziemlich kompliziert. Um ehrlich zu sein, hatte ich seit Saisonbeginn das Gefühl, diese Faustregel wäre seit Saisonbeginn rund um den Tivoli ein bisschen in Vergessenheit geraten. Da wagten es die Gegner doch glatt bis zur letzten Minute zu spielen, zu kämpfen und letztlich auch zu treffen und all das, wo doch so viel Mühe, Zeit und Ideenreichtum in eine neue Alemannia gesteckt worden war. Skandal! Sollte sich am Ende etwa doch alles auf dem Platz und etwa nicht in sozialen Netzwerken, Brainstormings oder schwarz-gelbem Herzblut entscheiden? Das wäre zumindest heftig. Denn es würde ja bedeuten, man müsste sich auf Fußball konzentrieren – auf Fußball mit allen seinen Ecken und Kanten, von der Fehlentscheidung über den gegnerischen Spielmacher bis hin zur vergebenen Torchance in der 95. Minute. 

Nach all der Euphorie, dem eigentlich schon beschlossenen Aufstieg und der Planung der Feierlichkeiten (ja – auch ich hatte den Sekt schon kaltgestellt), stehen die Zeichen schon am fünften Spieltag wieder auf Neuanfang. Auf der Kommandobrücke kein Sanitäter in der Not, kein Fallschirm und auch kein Rettungsboot mehr, dafür aber ein guter alter Bekannter, der in seiner aktiven Laufbahn mindestens so viele Grasnarben einatmete, wie Mick Jagger seit den 60ern Groupies vernaschte. Man kann sagen: eine Kernkompetenz dort, wo eine entschlossene Grätsche mehr geschätzt wird als ein ausgetüfteltes Anlaufverhalten. 

Als ich Reiner Plaßhenrich zum ersten Mal live erlebte, pflügte er in einer Saison, in der wir es bis nach Sevilla, Athen und Hafnarfjördur schafften, den Rasen des Tivoli Grashalm für Grashalm so entschlossen um, als würde das am nächsten Tag verboten. Ich war begeistert. Dass die anderen eben auch gewinnen wollten, schien ihm ins Blut übergegangen zu sein. Wenn er eines seiner positionsbedingt eher seltenen Tore schoss, ging er vor dem Würselner Wall auf die Knie, ballte beide Fäuste und schrie seinen Siegeswillen in die von Flutlicht geschwängerte Nacht. Mit seiner sehnigen Statik warf er sich in jeden noch so massigen Gegenspieler und gewann Zweikämpfe, die so gar nicht zu seinen dünnen Beinen und dem leicht gebeugten Oberkörper passten. Er gewann sie trotzdem und bezahlte später mit seinem Knie dafür. Es war der große Bill Shankly, der einst in Liverpool einen am Knie bandagierten Spieler mit den Worten einnordete: “Take that poof bandage off. What do you mean about your knee? It’s Liverpool’s knee!”. Plaßhenrichs Knie war Aachens Knie. 2009 beflockte ich mein Trikot mit seinem Namen als er längst Alemannias Kapitän war. Keine Frage: Nicht nur sein Knie war Alemannia. Er war es auch darüber und darunter.

Als ich ihn das letzte Mal live erlebte, feierte Alemannia das Jubiläum der Pokalsaison mit all den alten Recken im Spielertunnel des Tivolis. Er selbst hatte diese Saison noch in Lübeck erlebt und wäre fast Alemannias Gegner in Berlin geworden, was im Nachhinein auch eine nette Pointe gewesen wäre, aber vielleicht auch dazu geführt hätte, dass sein Knie nicht Aachens, sondern Lübecks Knie geworden wäre. Nachdem Kalla Pflipsen, Stephan Straub und Stefan Blank an diesem Anekdoten-Abend in alten Zeiten gegraben und für zahlreiche Lacher gesorgt hatten, kam im zweiten Teil des Abends Reiner Plaßhenrich, mittlerweile und konsequenterweise Co-Trainer an der Krefelder auf das Podest, um über die Gegenwart zu sprechen, an seiner Seite: Nachwuchskicker Sasa Strujic, der auf eine Frage aus dem Publikum auch gleich zum Besten gab, dass er viel vorhabe mit seiner Alemannia und überhaupt im Fußball. Zaghafter Applaus machte sich breit, ob der ehrgeizigen Ambitionen des jungen Mannes, bis sich plötzlich der einstige Kapitän das knarzende Mikro schnappte und eine zumindest subaggressive Abhandlung zum Zusammenspiel von Ambition und Tat zum Besten gab. Das Raunen im gut gefüllten Spielertunnel schien ihn dabei nur wenig zu beeindrucken. In alten Zeiten rumzustochern? Nicht sein Ding. Dann schon eher den aufstrebenden Jungstar in bester Shankly-Manier kurz einnorden, damit was vorwärts gehen konnte am Tivoli. Ich selbst widerstand dem innerlichen Verlangen auf der Stelle auf den Knien vor ihn hin zu rutschen und ihn so zu feiern, wie er das einst mit seinen wenigen Toren getan hatte. Ich hatte die ernsthafte Sorge, dass er mich auf der Stelle weggrätschen würde. Leute wie er, lassen sich nicht gerne feiern – wenigstens nicht schon im Spielertunnel. Denn da wollen immer auch die anderen gewinnen, egal wieviel Herzblut, Zeit und Mühe vorher geflossen sind. Tut manchmal weh, sich das einzugestehen. Und auch wenn es ein Hiob für die Grasnarbe ist: Gut, dass der Kapitän wieder an Bord ist.

Diese Kolumne erschien anläßlich des Heimspiels der derzeit etwas desolaten Alemannia aus Aachen gegen die Zweite von Schalke 04. Wo? Im Tivoli Echo.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker