Aus Kindern werden Leute
Als ich das erste Mal mit meinem Jungen am Tivoli war, trug Alex Klitzpera noch die 3 über den Rasen und steuerte einen astreinen Doppelpack zum 2:0 Sieg gegen 1860 München bei. Der Tivoli war noch der Tivoli und in der Halbzeit zimmerte Günther Delzepich einen Elfmeter durchs Netz. Das Volk johlte bei bestem Wetter und der klitzperische Heimsieg tat sein Übriges. Kurz: ein perfekter Nachmittag, der mit einem schwarz-gelben Schal und einer Fahne für den Filius abgerundet wurde. Auf dem Weg vom Block zum Auto schwenkte der damals gut Vierjährige fröhlich die gerade erworbene Flagge und verkündete mit kindlichem Pathos in der Stimme: „Papi – da fahren wir wieder hin.“ Kleine Becker-Faust des alten Herrn in der Tasche, der schließlich spätestens da wusste: Den hatte Alemannia ab sofort am Wickel.
Als wir am vergangenen Freitagabend am Bierstand ungeduldig auf das Spiel warteten, eine Stadionwurst in Senf tauchten und unseren Blick über all die vielen Menschen schweifen ließen, die zum Saisonauftakt zu Alemannia pilgerten, erinnerten wir uns an gute alte Zeiten. Denn da waren nun nicht mehr nur all die unverzagten Alemannen, die einfach nicht aufhören zum Tivoli zu gehen, immer in der Hoffnung, dass diesmal alles anders wird. Nein – dieses Mal kehrten einerseits viele Alemannen zurück und auf der anderen Seite waren einige tatsächlich zum ersten Mal da. Über beide freute ich mich riesig, denn ohne sie wird es nicht gehen in dieser Saison, die uns alle so sehr träumen lässt.
Schräg gegenüber von uns stieg ein Althauer die Treppen hoch und zeigte sein Waden-Tattoo mit Alemannia Wappen stolz in kurzer Hose, auch wenn es nicht mehr ganz so stramm zu sitzen schien, wie einst im Mai. Neben uns standen zwei Rentner-Kiebitze, die sich über früher unterhielten und dem Ganzen noch einmal eine Chance zu geben schienen. Um ihren Hals, ein Alemannia Schal mit dem Schriftzug „Bundeliga 2 – Alemannia ist dabei“ – vielleicht nicht mehr ganz taufrisch, aber irgendwie trotzdem nicht unpassend an diesem wunderbaren Abend, an dem das Stadion so viel lief wie so manche Kehle rechts und links von uns.
Noch viel mehr allerdings als über die Alten, die endlich wieder da waren, freute ich mich aber über die, die ganz offenbar zum ersten Mal in diesem Stadion waren – völlig neugierig auf das, was sie erwartete und ganz ohne diesen Rucksack, den wir anderen so mit uns rumtragen und der aus Neugierde längst blanke Angst gemacht hat, vor dem, was uns dieses Mal erwartet. Da war dieser kleine Junge direkt vor uns, der etwas zu schnell an dem riesengroßen Becher Fanta trank, den ihm sein Opa gerade gekauft hatte, weil Spieltag eben Festtag ist und ein bisschen Zucker eben nicht schadet, wenn Alemannia aufläuft. Nicht weit davon entfernt, stand ein kleines Mädchen im Alemannia-Trikot, einem neuen wohlgemerkt, das gemeinsam mit ihrer Schwester und ihren Eltern staunend zu ihrem Sitzplatz taumelte, beeindruckt von der Kulisse, der lautstarken Gesänge und dieser wunderbaren Atmosphäre, die eben am Ende doch nur ein Fußballspiel entfachen kann. „Die kommen jetzt immer wieder“, sagte ich zu meinem Kumpel Lars als wir erfreut an unserem Bier nippten und ebenfalls zu unseren Plätzen gingen – etwas gefasster als dieses kleine Alemannia-Mädchen, aber nicht unbedingt weniger beeindruckt. Ein volles Stadion gehört immer noch zu den großen Erlebnissen im Leben, egal wie oft Du es schon gesehen hast.
Als wir gut zwei Stunden später die Treppen wieder runtertaumelten, fühlte sich alles taub an. Denn Alemannia hatte mal wieder ein Spiel vergeigt, wie es am Ende nur Alemannia kann. Ein bisschen verpfiffen, ein bisschen mehr selbst verspielt und ein bisschen halt, wie so oft. Und als ich so ins weite Rund der anderen enttäuschten Alemannen schaute, sah ich diesen kleinen Jungen, der vor dem Spiel noch die Fanta hinabgestürzt hatte. Sein Opa zog ihn mit finsterem Blick aus dem Stadion und er selbst weinte bittere Tränen. Wenn man so schon so lange hingeht ins Stadion, vergisst man manchmal welche Wucht der erste Stadionbesuch hatte und wie tief er reingeht. Und wie tief musste dieser Spielverlauf bei ihm reingegangen sein. Unten am großen Tor angekommen, nahm ihn sein Opa in den Arm, tröstete ihn und sagte ihm irgendetwas ins Ohr, was ich aus der Entfernung nur ahnen konnte. Ich wünschte mir sehr, dass er ihm sagte, dass beim nächsten Mal alles besser wird und sie natürlich wieder hingehen werden, wenn Alemannia wieder spielt. In jedem Fall nickte er und wischte sich tapfer die Tränen aus dem Gesicht.
Ich selbst versuchte etwas später in der nahen Hotelbar meinen Frust zu ertränken. Mein Kleiner, der heute schon groß ist, war gerade im Urlaub, hatte dort aber mit seiner Freundin verhandelt, das Spiel auf dem Handy gucken zu können. Zwischen zwei Schlücken schrieb er aus der Ferne „Papa, ich kann das alles nicht mehr!“. Ich lächelte bitter, zeigte Lars die Nachricht, auf die aber auf der Stelle die nächste folgte. „Gegen Gladbach bin ich aber wieder dabei!“. Ich dachte an Klitzpera, an Delzepich, an die Becker-Faust und wusste: Aus Kindern werden Leute!
Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo anläßlich des Alemannia-Heimspiels gegen die Zweite von Borussia Mönchengladbach. Alemannia kassierte in der 89. Minute das 2:2. Kinder weinten.