Zimbo-Ecke und Meulenberg
Als Alemannia sich Ende der Neunziger aufmachte, endlich den Aufstieg in den bezahlten Fußball einzutüten, lebte ich in ständigem Marmeladen-Aroma auf der Jülicher Straße in Aachen in einer denkwürdigen WG. Dort war die Staubschicht auf den Fenstern so dick wie das Fell der Alemannia-Fans, die es sich in der Regionalliga West/Südwest schon fast gemütlich gemacht hatten. Sprach uns unser damals schon arg betagter Nachbar „Herr Haveneth“ – Gott habe ihn längst selig – im Hausflur auf den Zustand der Fenster an, ging einer von uns rein und rief ihn an, damit er in seiner Wohnung verschwand. In unserer Küche hingen, an Heftzwecken befestigt, Zeitungsartikel auf denen Mario Krohm und Erwin Vanderbroek in langsam vergilbender Zeitungsschwärze vor sich hin flatterten und sich nicht im Geringsten über die Berge gebrauchten Geschirrs auf der Spüle wunderten. Wir lebten ein gutes Leben, auch weil wir alle zwei Wochen zum Tivoli gingen, um dort zu frieren und uns nass regnen zu lassen, während wir von fernen Aufstiegen und Pokalsiegen träumten. Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein.
Gleich schräg gegenüber von uns trafen wir uns an einer Straßenecke mit all den anderen Verstrahlten, wenn Alemannia zu Hause am Tivoli spielte. Wir nannten sie „die Zimbo-Ecke“, frei nach Alemannias rechtem Verteidiger Michael Zimmermann. Zu dem Zeitpunkt als wir die Straßenecke nach ihm benannten, war er noch Ersatzmann von André Winkhold, der sich viel später in der Saison sein Kreuzband zu Zimbos Gunsten reißen sollte. „Sechs Uhr an der Zimbo-Ecke“ – ein Satz, der zum Programm bei Flutlichtspielen wurde. Denn mit Tankstellen-Bier im Arm warteten wir an der Zimbo-Ecke, bis alle eingetroffen waren, die sich für dort angesagt hatten und machten uns ziemlich halbstark auf zum nächsten Treffpunkt für Heimspiele. Da es zu diesem leicht bergauf ging und der Anstieg die ersten von uns schon leicht ins Schwitzen brachte, gaben wir dem Berg zum Tivoli ebenfalls einen besonderen Namen. Wir nannten ihn den „Meulenberg“, wieder nach einem Verteidiger Alemannias, nach Bart Meulenberg. Der Mann war erst zu Saisonbeginn zu Alemannia gekommen, aber seine Aura als Niederländer reichte uns schon, einen Berg nach ihm zu benennen – die sowie sein kongenialer Nachname natürlich. So freuten wir uns immer diebisch darüber, wenn wir am Meulenberg endlich alle zusammenfanden, um ins Stadion zu gehen. Wir prosteten, sangen und freuten uns auf das bevorstehende Spiel in diesem alten wunderschönen Stadion, dessen Licht und Schlichtheit mir so sehr fehlt, seit es nicht mehr da ist.
Die Saison an der Zimbo-Ecke und den Meulenberg hinauf wurde zu der wahrscheinlich erinnerungswürdigsten, die Alemannia je erlebt hat. Alemannia stieg unter unfassbaren Begleiterscheinungen und mit einer nie wieder erlebten Dramatik auf. Mit nur einer einzigen Saison etablierte sie damit eine ganze Fangeneration, die ein wesentliches Fundament des heutigen Regionalliga-Zuschauerrekords bildet. Wenn es Alemannen gibt, die aus gutem, weil erlebtem Grund einfach nicht aufhören zu Alemannia zu gehen, dann ist es diese Generation, die auch nicht müde wird, das Erlebte weiterzuerzählen. Vielleicht war früher nicht alles besser, einiges aber immerhin so, dass man es nicht vergessen kann.
Ich nehme an, auch deshalb wurde kürzlich sofort in Alemannia-Kreisen publik, dass Bart Meulenberg, nach dem in Aachen ein ganzer Berg (manche würden sagen: ein Hügel) benannt ist, schwer erkrankt sei und dringend Hilfe benötige. Eine verfluchte Krankheit hat den Aufstiegshelden von einst heimgesucht. Das zu hören, machte mich traurig, so sehr, wie es mir Hoffnung gab, zu hören, dass die Aufstiegshelden von einst für eine Therapie Geld sammelten, natürlich ungefähr da, wo sie einst aufgestiegen waren – unweit von seinem Berg entfernt. Gestern schaute ich noch einmal auf seine Spendenseite im Netz und da war tatsächlich eine Summe zusammengekommen, die der einstigen linken Seite des alten Tivoli und seiner Familie Hoffnung geben kann. Jeder Spender und jede Spenderin kann ihm dort eine Grußbotschaft hinterlassen – viele davon hatten mit Alemannia zu tun, einige spendeten genau 19,00 Euro. Ein großartiges Zeichen – wie ein Denkmal an alte Zeiten. Einmal Alemannia, immer Alemannia.
Sofort dachte ich daran zurück, wie wir uns einst alle an der Zimbo-Ecke trafen und uns aufmachten zum Stadion, den ganzen Meulenberg hoch – diesen steilen Berg, der nach Bart Meulenberg benannt ist. Wir lebten ein gutes Leben, auch weil wir alle zwei Wochen zum Tivoli gingen. Und hey, ein paar Jahre machen wir das auch noch, weil es nicht viel gibt, was besser wäre. Auf geht´s, Aachen! Kämpfen und Siegen!
Diese Spieltagskolumne erschien im Tivoli Echo anläßlich eines zusammengerumpelten 1:0 Heimsiegs der furchtlosen Alemannia aus Aachen gegen den SC Wiedenbrück.