Wenn der Ball auswärts ruht
Auswärts ist anders. Immer. Laut, bedingungslos, radikal und ohne Kompromisse. Erst recht ist auswärts anders, wenn Du nach Wuppertal fährst, sagen wir mal bei 0 Grad. Lange Unterbuxe, Alemannia-Pudelmütze und einen leichten Kater im Gepäck, weil das an einem Samstagmittag eben schon mal vorkommen kann unter Pastorentöchtern. Den Parkplatz irgendwo unter dem Stahl der Schwebebahn musst Du auch erst mal finden, was aber mal gar nichts dagegen ist, in Wuppertal ein Kartenhäuschen zu finden. Denn dafür brauchst Du fast schon seherische Qualitäten oder einen Eintrittskarten-Experten der Kategorie Didi Hamann an Deiner Seite. Wer kann schon ahnen, dass man in Wuppertal ein nach allen Regeln der Kunst abgerocktes Tickethäuschen mitten in eine Traube wartender Alemannia-Fans und unmittelbar vor die uringeschwängerte Unterführung zum Stadion am Zoo stellt? Auswärts ist halt anders. Ohne Kompromisse. Das weißt Du spätestens dann, wenn Du Dich mit Deinem Kater durch einen Pulk wartender Alemannen zu eben diesem Tickethäuschen drängelst – besser als jedes Konterbier. Keine Frage: Danach bist Du wieder voll da und das musst Du ja auch sein auswärts, zumal Unterführungen zu einem Stadion ja auch etwas Besonderes haben. Sie hallen nämlich schöner als jeder Konzertsaal. Fängt jemand an zu singen und alle stimmen ein – egal ob sie gerade gegen die Wände rechts und links pinkeln oder einfach nur schnell zur Stehplatztribüne kommen wollen, dann geht der Fußball so wie er eigentlich sein soll direkt in Dein Ohr. Auswärts ist laut. Stimmt einen unfassbar gut ein auf die 90 Minuten, so ein Unterführungsecho, auch wenn ich es ganz und gar verstanden habe, als der Sohnemann nun sichtbar erleichtert schien, dass seine Freundin nach kurzer Überlegung darauf verzichtet hatte, mitzufahren. Frauen – gerade die jungen – verstehen den Zauber eines solchen Ambientes nicht auf Anhieb. Dieses Licht ging ihm hier auf, das war deutlich sichtbar als alle nach Alemannia riefen und es lauter war als es eigentlich sein konnte.
Genauso schwer ist es übrigens, jemandem den Zauber eines Freistoßes zu erklären – wenigstens jemandem, der noch nie einen ruhenden Ball vor sich liegen sah und ihn aus dieser stillen Position ins Netz versenkte. Das wird nicht vielen gegeben, so viel ist mal klar. Mir wurde es nur einmal geschenkt – bei den alten Herren in Stockheim und zwar obwohl ich einen schlimmeren Kater hatte als der ganz Auswärtsblock in Wuppertal zusammen. Die Mauer stand schlecht damals und im Tor stand ein Mann, dem selbst Joe Biden über die Straße geholfen hätte. Trotzdem war es alles andere als einfach, sind Freistöße nie. Ich weiß noch, wie ich den schwierigen Weg um die Mauer wählte, den ich aber auch nur deswegen wählen konnte, weil sie zu weit in der Torwartecke stand, weil niemand Interesse daran hatte, sie zu korrigieren und weil ich nah genug am Tor war. Egal – ich drehte ihn rein und das Ding war drin. Nur das zählt.
Als Anton Heinz in Wuppertal anlief hatte er schon zwei Dinger gemacht und eigentlich macht man dann den Dritten dann nicht mehr. Auch deshalb war meine Hoffnung gering, als er direkt vor uns zu Boden ging und sich, wie um meine Vorahnung zu unterstreichen, auch noch einen Wadenkrampf zuzog. „Steh auf. Den machst Du jetzt auch noch!“, rief irgendeiner hinter, vor oder neben uns – wer kann schon sagen, wo er stand?
Und tatsächlich legte sich Anton Heinz erst den Wadenkrampf und dann den Ball zurecht. Aber bei aller Entschlossenheit, irgendwie war auch klar: Den kann er nicht machen. Meine Frau hat mal gesagt, dass ich in Sachen Fußball verflucht sei und Tore kurz vor Schluss immer nur gegen mich und nie für mich fallen. Jahrelange Beobachtung hat ihr schon viel zu oft Recht gegeben. Deshalb hatte ich ihr von Düren auch nicht groß erzählt. Ich dachte, das bringt Unglück. Nun also: Heinz, mit einem Wadenkrampf und schon zwei Treffern im Sack. Nein – wahrscheinlich würde sie auch diesmal richtig liegen, das Ding jetzt in die Mauer fliegen und von dort aus direkt in den Konter zum Wuppertaler Siegtor übergehen. Also presste ich mich reichlich unentspannt in den Wellenbrecher – einfach um nicht vermessen zu erscheinen und den einen Punkt mitzunehmen. Der würde noch mal wichtig werden, könnte ich nachher erzählen, was ja auch nicht schlecht wäre. Und ich bin ehrlich: Als er dann auch noch die Ronaldo-Pose zelebrierte, na ja. Aber dann geschah es und jeder, der es gesehen hat, weiß, dass da etwas passierte, was eigentlich nicht passiert, ohne dass eine höhere Macht mit genau diesem Moment etwas vorhat. Als die Pille seinen Fuß verließ, war schon plötzlich allen und sogar mir klar: Der geht rein! Der geht wieder rein!
Und er ging rein! Wieder rein. Gleichzeitig ging der Ton aus. Ich sah nur noch alle herumspringen in diesem Wuppertaler Kühlschrank, sich ohnmächtig an den Kopf greifen und wie von Sinnen irgendetwas brüllen, dass wahrscheinlich über ein ungläubiges „Aaaarrrrghhh“ nicht hinausging. Das Nächste, was ich sah, war ein jubelndes Anton-Heinz-Knäuel da unten vor der Kurve und lauter schüttelnde Köpfe, gereckte Fäuste und atemlose Schreie. Er hatte es wieder gemacht. Tatsächlich. Du weißt, Du brauchst solche Momente für das ganz große Ding. Auch wenn alles in mir sagt, dass ich jetzt die Ruhe bewahren muss – der Fluch und so. Aber, Alter! Wuppertal auswärts. Das war anders. Das war laut. Das war bedingungslos. Das war radikal. Das war ohne Kompromisse. Anton Heinz, Du Parkplatz! Du Kater! Du Kartenhäuschen! Du Stehplatz! Du lange Unterbuxe! Du Wellenbrecher! Du Fußballgott!
Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo anläßlich des Heimsiegs der wunderbaren Alemannia gegen den SV Lippstadt, der in der 98. Minute errungen wurde.