Den Ball im Blick

Zum Tod von Andi Brehme (unsterblich)

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 20.02.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Den Ball im Blick

Andreas Brehme schaute wie hypnotisiert auf den Ball, nur auf den Ball. Um ihn herum tobte das Chaos. Auf den Rängen bejubelten schon die ersten den Titel noch bevor der Ball überhaupt auf dem Punkt lag. Auf dem Rasen schimpften die Argentinier wie wild auf den Schiedsrichter ein. Zuerst hatte er sich das Leder selbst nehmen wollen, wohl um es im Arm zu halten bis er schießen musste. Doch Jose Serrizuela, der argentinische Verteidiger von River Plate Buenos Aires hatte den Ball weggeschossen bevor er zugreifen konnte. Nun hielt ihn Schiedsrichter Edgardo Codesal aus Mexiko in den Händen, der „Gynäkologe aus Mexiko City“ wie Gerd Rubenbauer während seines Live-Kommentars vom Moderatorenplatz aus in die deutschen Wohnzimmer gerufen hatte. Zwei Meter von Brehme entfernt wurde er bedrängt von Maradona, Sensini und eben Serrizuela, die unentwegt auf den Unparteiischen einredeten und gegen seine Entscheidung protestierten. Brehme hielt derweil die Hände in den Hüften und starrte weiter auf den Ball, immer nur auf den Ball. 

Kurz vorher hatte Rudi Völler ihm zugerufen „So, den machst du jetzt rein, dann sind wir Weltmeister.“ „Na, schönen Dank auch“, hatte Brehme geantwortet. Völler hatte den Elfmeter Sekunden vorher nach einem Steilpass von Lothar Matthäus mit einer Schwalbe herausgeholt und damit seinen Job getan.

Nun lag es eben an Brehme. Er wusste, was an diesem Schuss hing, auch ohne Völlers Wink. Nun, kurz vor der Ausführung war er alleine mit seinen Gedanken. Matthäus hatte sich in die eigene Hälfte verdrückt, weil er seinem neuen Schuh nicht vertraute und auch die anderen schauten Brehme aus sicherer Entfernung dabei zu, wie er sich auf den wohl wichtigsten Elfmeter seiner und ihrer Karriere vorbereitete.

Sollte er mit rechts oder mit links schießen? Wenn es je einen beidfüßigen Spieler gab, dann war es Brehme. Nun musste er sich allerdings entscheiden, welchen Fuß er für diesen einen Schuss nahm. Er entschied sich für den rechten, allerdings erst – wie er später in einem dieser vielen Interviews zu diesem Elfmeter erzählen sollte – nachdem Codesal den Ball frei gegeben hatte. Auch die Wahl, in welche er schießen würde, traf er erst nachdem der Ball frei war. Mit dem rechten Fuß versierte er die linke Ecke an. Er musste platziert schießen – das war ihm klar. Mit Sergio Goycochea stand ihm ein Torwart gegenüber, der wusste, wie man Elfmeter hielt. Sowohl im Viertelfinale gegen Jugoslawien als auch im Halbfinale gegen den Gastgeber dieser WM hatte er seiner Mannschaft den Einzug in die nächste Runde gesichert – beide Male im Elfmeterschießen. Brehme vermied es also diesem „Elfmetertöter“ durch einen flüchtigen Blick in eine der beiden Ecken einen Anhaltspunkt zu liefern, was er vorhatte. Stattdessen starrte er weiter immer nur auf den Ball, die Hände in den Hüften – auch in dem Moment noch, als die Argentinier vor dem Moment kapituliert und ihre Proteste eingestellt hatten. 

Codesal legte das Leder schließlich auf den Punkt und zum ersten Mal bewegte sich Brehme. Er legte sich den Ball selbst noch einmal zurecht. In diesem Moment ging es nur um ihn und um diesen Ball. Fast liebevoll drehte er in beiden Händen und legte ihn dann sanft auf den Punkt. Der mexikanische Schiedsrichter zeigte ihm die Pfeife und redete auf ihn ein, wohl um ihm anzuzeigen, dass er erst schießen dürfe, wenn er diese Pfeife höre. Brehme nickte kurz und dann schaute er erneut zum Ball. Langsam entfernte sich Codesal vom Punkt – zunächst rückwärtsgehend und dann die letzten Schritte leicht federnd im Rückwartslauf. Nun waren Brehme und Goycochea tatsächlich alleine. Immer noch schaute Brehme nur den Ball an – beinahe gespenstisch. Der Pfiff aus der Pfeife erklang. 

Es wurde ruhig im Estadio Olimpico, in das 73.603 Menschen gekommen waren, um das Finale zu sehen. Sie hatten in den 85 Minuten vor dieser Szene gesehen, wie die deutsche Mannschaft das Finale um die 14. Fußball-Weltmeisterschaft deutlich beherrscht hatte. Sie hatten verfolgt, wie die Deutschen zahlreiche Chancen ungenutzt ließen und wie ihnen ein klarer Elfmeter an Klaus Augenthaler verwehrt worden war, der den Pfiff nach Völlers Umfaller in ihren Augen im Nachhinein rechtfertigte. Und sie hatten gesehen, dass Argentinien in diesem Spiel keine Torchance, nicht einmal einen Eckball verzeichnete. Maradona hatte gerade ein Mal auf das deutsche Tor geschossen und das auch noch ungefährlich. Dazu gewann er gegen Guido Buchwald schwache 36 Prozent seiner Zweikämpfe. Keine Frage: Ein deutsches Tor war hochverdien in diesem Moment fünf Minuten vor dem Spielende. 

Gut fünf Meter Anlauf gönnte sich Brehme. Zunächst langsam, aber ohne zu trippeln, lief er an. Er stellte den linken Fuß neben den Ball und traf ihn mit der rechten Innenseite – hart und platziert. Goycochea ahnte es. Mit dem rechten Bein voraus sprang er kraftvoll genau in die Ecke, die Brehme sich ausgesucht hatte. „Als der Ball auf den Innenpfosten zu lief, hatte ich eine Schrecksekunde“, so Brehme im Rückblick. Es sah aus, als könne Goycochea parieren. Der argentinische Schlussmann streckte sich. Er muss den Luftzug des Balls gespürt haben. Denn er war nah dran. Aber es reichte nicht. Brehme hatte mit dem rechten Fuß so in die linke Ecke geschossen, dass er sich vom Torwart wegdrehte, fast so, als wolle er nicht gehalten werden. Beinahe wirkte es als hätte Brehme ihm genau das gesagt, in den Minuten zuvor, in denen er wie wahnsinnig auf ihn gestarrt hatte – in diesem stillen Zwiegespräch des Schützen mit dem Ball. 

Nun rauschte er Millimeter an der ausgestreckten Hand Goycocheas vorbei – ins Tor! Brehme schaute kurz hinterher und drehte dann sofort nach rechts ab. All die Anspannung fiel nun von ihm ab. Er hatte getroffen – tatsächlich getroffen. Den Oberkörper leicht vorgebeugt, ballte er beide Fäuste, schrie seine Freude in diese sensationelle Nacht von Rom. Nach gut zehn Metern euphorischen Jubellaufs sprang er in die Höhe, warf die Faust in die Luft. Er hatte getroffen. Weltmeister! Als erster war Jürgen Klinsmann bei ihm, der ihn umriss und sich dankbar an ihm klammernd festjubelte. Völler, Reuter und Littbarski waren die nächsten, die sich auf den glücklichen Schützen warfen. Ein unglaublicher Freudentaumel ging durch das Stadion, das mit überwiegend deutschen Fans besetzt war, die bereits den Titel feierten.

In den restlichen fünf Minuten kamen die Argentinier kaum noch an den Ball. Ihren Frust reagierten sie auf andere Weise ab. Dezotti sah nach einer Tätlichkeit an Kohler die rote Karte, die zweite für die indisponierte Albiceleste an diesem Abend. Mit neun Mann hatten sie dieser euphorisierenden deutschen Elf nichts mehr entgegen zu setzen. Beinahe hätten Häßler und Klinsmann gar noch das 2:0 erzielt, was aber nur noch von statistischem Wert gewesen wäre.

Das Spiel ging mit drei Minuten Nachspielzeit zu Ende und fast zwangsläufig gehörte Andreas Brehme der letzte Ballkontakt. Er schirmte seinen Ball auf der linken Seite der eigenen Hälfte ab und hörte den Schlusspfiff mit dem Ball am Fuß. 

Ausgelassen feierte die Mannschaft Franz Beckenbauers einen Sieg, der getrost als der verdienteste der vier WM-Titel bezeichnet werden darf, wenn man sich nur die Spielanteile im Finale anschaut. 

Große Gesten folgten: Franz Beckenbauers einsamer Spaziergang über das Spielfeld in Rom, fast kitschig begleitet vom Licht des Mondes. Diego Maradonas Tränen, live übertragen auf der Anzeigentafel und begleitet von einem gellenden Pfeifkonzert der Italiener. Lothar Matthäus, der den Pokal in den Nachthimmel reckte und anschließend mit seiner Mannschaft zur Ehrenrunde startete. Eine ausgelassen singende und tanzende deutsche Mannschaft in der Kabine, in der Helmut Kohl an der Seite Beckenbauers Champagner aus Pappbechern trank. 

Doch was vor allem bleibt von diesem Spiel ist Brehmes Schuss, der so knapp an Goycocheas rechter Hand ins Netz geht, sein Jubellauf danach und sein Blick auf den Ball davor, als um ihn herum das Chaos regierte. Na schönen Dank auch!

zum Tod des ewig lebenden Andi Brehme, aus: „Heldentaten“ von Sascha Theisen

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker