Bilderrahmen für die Ewigkeit

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 27.03.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Bilderrahmen für die Ewigkeit

Bei mir zu Hause hängt ein alter Zeitungsschnipsel hinter dem Bildschirm. Immer wenn ich zu Hause arbeite, schaue ich drauf. Manchmal, wenn mich niemand sieht, was oft der Fall ist – mein Schreibtisch steht im Keller – küsse ich Zeige- und Mittelfinger und lege beide in einer Art ritualisierter Geste direkt auf den Zeitungsausschnitt. Ich habe ihn nicht eingerahmt. Warum nicht, kann ich gar nicht sagen. Verdient hätte er es allemal. Denn die Überschrift, die mittlerweile leicht vergilbt und langsam verblassend in meine Richtung grüßt, wäre es wert gewesen, hinter Glas verewigt zu werden. Es gibt Überschriften, die sollten überdauern und keine Frage: Die hier ist so eine. „Bundesliga aktuell: 3:1 Aachen jetzt an der Spitze“ steht drauf und gemeint war seinerzeit nichts Geringeres als die Tabellenführung in der Eliteklasse, wenn auch nur für eine Nacht – eine Nacht allerdings, in der Du von Champions League, Bernabeu, San Siro und Anfield träumen darfst. Alemannia hatte in einer feuchten Oktober-Nacht am siebten Bundesliga-Spieltag den Mainzer Bruchweg im Sturm genommen und einen dieser Auswärtssiege für die Ewigkeit gelandet, die man erst Jahre später wirklich zu schätzen weiß. Die Torschützen lesen sich wie eine süße Fahrt mit der Zeitmaschine in viel bessere Tage: Thomas „Die Axt“ Stehle, Sascha Rösler und Marius Ebbers. Selbst einer wie Jürgen Klopp auf der Mainzer Trainerbank war seinerzeit nicht in der Lage, die große Alemannia aufzuhalten. Gut – Bernabeu, San Siro und vor allem Anfield ging danach an ihn, aber wer will ihm das schon nachtragen?

Keine Frage: Tabellenführer zu sein ist süßer als Honig. Denn wenn Du nicht gerade Bayern-Trikots im Schrank hast, kannst Du Dir im Grunde nicht sicher sein, wann es das nächste Mal passiert, dass Du noch mal von ganz oben grüßt, ganz egal in welcher Liga und an welchem Spieltag. Plätze an der Sonne sind rar gesät und Du solltest sie genießen, solange Du kannst. Wer wüsste das besser als wir? Denn nach Marius Ebbers Treffer gegen Kloppo stieg Alemannia fatale drei Mal ab, ging zwei noch fatalere Male bankrott, gewann immerhin einen Bitburger-Pokal und brachte mich und so viele andere mindestens hundert Mal um den Verstand. Tabellenführer war sie seitdem allerdings nicht mehr. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Jetzt wo ich diese Kolumne schreibe, ist Alemannia tatsächlich wieder Tabellenführer, zwar noch gut vier Monate zu früh, aber da sollte man nicht wählerisch sein, denn ab sofort blühen die Träume so wie einst nur unter der Decke von Gunter Gabriel. „Und da mach es Dir bequem.“

Der neue Sascha Rösler heißt jetzt Anas Bakhat. Der neue Marius Ebbers, Anton Heinz. Und die Axt schwingt Mika Hanraths. Klar, dass da der Blätterwald nur so rauscht. Die Aachener Zeitung titelte nach dem krachenden Saisonauftakt am beschaulichen Niederrhein: „Tabellenführer nach dem höchsten Saisonsieg“. Und hey – da war wieder so eine Überschrift, die es wert war hinter Glas verewigt zu werden. Selbst meine mittlerweile 84-jährige Mutter sah das ein und sich selbst bemüßigt, all ihre digitalen Influencer-Qualitäten zusammenzukratzen und mir zur Tabellenführung mit dem auch für sie durchaus altersgerechten WhatsApp-Chant „Spitzenreiter! Spitzenreiter!“ zum Platz an der Sonne zu gratulieren. Mehr Social-Media-Kompetenz kann man nun wirklich nicht erwarten. Erst recht nicht in einer Zeit, in der Alemannia die vereinseigenen Posts so in den Sand setzt, wie es eben auch nur Alemannia kann. Aber lassen wir das – es tut immer so weh, wenn man den eigenen Kopf auf die Tischplatte haut. 

Wie auch immer – wir halten fest: Tabellenführungen sind keine Frage des Alters. Sie sind eine Lösung für die Ewigkeit. Als ich nach diesem in vielen Belangen gelungenen Wochenende an meinen Schreibtisch in den Keller hinabstieg, grüßte mich der gute alte Zeitungsausschnitt hinter dem Monitor und irgendwie sah es für mich so aus, als würde er mir diesmal besonders freundlich zulächeln. Ich küsste Zeige- und Mittelfinger und legte beide für ein paar Sekunden darauf. Gleich danach bestellte ich einen Bilderrahmen im Internet. Wurde höchste Zeit. 

Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo der großen Alemannia aus Aachen anläßlich des Heimspiels gegen Rot-Weiß Oberhausen am 10. Februar 2024

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker