Der Traum von Berlin im Mai

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 16.08.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Der Traum von Berlin im Mai

Denke ich an Alemannia im DFB-Pokal, denke ich an viele große Geschichten – an schier unmögliche Wunder gegen übermächtige Gegner, an dramatische Elfmeterschießen nach nervenzerfetzenden Schlussphasen, an große Gesten vor eskalierenden Zuschauerblöcken, an epische Pokalschlachten in schlammverschmierten Trikots unter glühenden Flutlichtmasten und an heisere Stimmen auf bebenden Rängen. Nichts ist wie Pokal – kein Abstiegskampf, kein Aufstiegsrennen, kein Kantersieg. Denn da ist dieser Traum von Berlin, der aus diesen „Alles-oder-Nichts-Duellen“ um die nächste Runde ein Ringen um das leider viel zu oft misslingende Ankommen in der Hauptstadt macht. Wer schon einmal in Berlin im Mai war, weiß, um was mit jeder Runde etwas mehr geht – um Geltung, Ruhm, Ehre und vor allem um einen Titel. Lange her, dass wir um all das spielen durften.

Das wird Dir mal wieder klar, wenn Du Dir auf YouTube noch einmal einen völlig in die Jahre gekommenen Clip des Erstrunden-Dramas 1986 gegen Werder Bremen gibst. Damals als Alemannias Torwart-Gigant Johannes Kau zuerst zwei Elfmeter hielt, dann selbst traf und schließlich den entscheidenden Schuss des gegnerischen Torwarts, der kein geringerer als Dieter Burdenski war, rausguckte. Wie herrlich diese alten Holztribünen in diesem einzigartigen Stadion beben konnten – so sehr, dass sie fast in sich zusammenfielen, während sie freudetrunken rüber zum Würselner Wall grüßten, der seinerseits gerade im Konfetti-Regen ertrank. Ganz ähnlich bebte dieses altwehrwürdige Stadion ein paar Jahre später als eines dieser Pokalspiele diesmal genau andersherum ausging. Es war der große und unerreichte Mario Krohm, der das Spiel eigentlich in der Verlängerung bereits per Elfmetertreffer entschieden hatte, dann aber sein Tor wieder hergeben musste, weil aus dem gegnerischen Fanblock (!) ein zweiter Ball ins Spiel geworfen wurde, just in dem Moment, in dem Krohm den Ball versenkt hatte. Eine dieser Pokal-Erinnerungen, die noch heute wehtut, zumal das anschließende Elfmeterschießen ausgerechnet wegen seines Fehlschusses verloren ging. Seinem Ruhm tat es trotzdem keinen Abbruch, sind Pokal-Stürmer seines Formats doch immer und zurecht am Tivoli gefeiert worden – so wie Erik, als das Leder von seiner Stirn abprallend noch einmal den Rasen per zärtlichem Aufsetzer küsste und anschließend am verzweifelt fliegenden Oliver Kahn vorbei den Weg eben genau nach Berlin in den Nexus der Fußballträume ebnete, wo drei Monate später eine „geile Mannschaft auf eine geile Kurve“ traf.

Der letzte dieser großen Pokalabende liegt allerdings lange zurück. Ich habe ihn tatsächlich noch in den Untiefen meines Handys gefunden und gleichzeitig markierte er rückblickend den Tag, an dem ich meinen Frieden mit dem neuen Tivoli machte, auch wenn er bis heute ein bisschen weniger knarzt als sein Vorgänger, sich aber an diesem Pokalabend erstmals ähnlich grandios erhob, wie sein Vorgänger es so oft getan hatte. Auch hier musste eine nervenzerfetzende Verlängerung, ein nicht weniger anstrengendes Elfmeterschießen und einer dieser Stürmer herhalten, um die wilden Ränge in diese einzigartige und bedingungslose Pokal-Ekstase zu versetzen. Als Benjamin Auer damals gegen Eintracht Frankfurt zum finalen Schuss anlief, den Torwart in die falsche Ecke schickte und mit weit ausgestreckten Armen in einen eiskalten Dezember-Abend hineinjubelte, träumten mehr als 30.000 Menschen den später leider unerfüllten Traum von der Hauptstadt und skandierten den Soundtrack all dieser Pokalschlachten ihn in die kalte Aachener Luft hinaus: „Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin!“. Jetzt, wo ich es aufschreibe, ist es fast so, als könnte ich ihn noch einmal hören und kann es gar nicht erwarten, ihn selbst noch einmal zu skandieren. Damals schrieb ich die Zeilen auf ein großes Stück Papier, malte einen Spieler in gelbem Trikot darunter, der Benny Auer ähnlichsehen sollte, und legte dieses Gemälde meinem damals noch kleinen Sohn auf den Küchentisch, damit auch er den großen Traum von Berlin am nächsten Tag auf dem Weg in den Kindergarten träumen konnte. 

DFB-Pokal – schön Dich wieder zu treffen nach all den Jahren. Du hast Dich kaum verändert. Lässt mich immer noch träumen – von all den Schlussphasen, vom grellen Licht der Flutlichtmäste, von all dem Grätschen-Matsch, den alles entscheidenden Elfmetern, von all den bedingungslosen Chants der Ränge und natürlich von Berlin im Mai. Nichts ist wie Pokal. 

Diese Kolumne erschien anläßlich der DFB-Pokal-Rückkehr der fantastischen Alemannia aus Aachen gegen Holstein Kiel.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker