Der Unüberwindbare
Dieser 4. Juli war nicht der Tag des Karim Benzema. Schon drei Mal war er in aussichtsreicher Position vor dem deutschen Tor an irgendeinem Abwehrbein oder an diesem Riesen im deutschen Tor gescheitert. Es war wie verhext für den Mann von Real Madrid, der bis zu diesem Spiel ein so großartiges Turnier gespielt hatte. Nein – man wollte wahrlich nicht tauschen mit Benzema an diesem heißen Tag in Rio de Janeiro.
Es lief die 94. Minute im Estadio do Maracana, dem Stadion, das neun Tage später Schauplatz des Titels der deutschen Mannschaft werden würde. Die deutsche Elf hatte stark gespielt in diesem Viertelfinale gegen Frankreich, gerade noch zwei glasklare Konterchancen liegen gelassen und nichts deutete darauf hin, dass auf dem Weg zum Halbfinale noch irgendetwas schief gehen konnte. Zwar war die Equipe Tricolore etwas stärker gewesen in der zweiten Hälfte des Spiels, aber so richtig brenzlig wurde es nie im deutschen Strafraum. Eigentlich konnte da nichts mehr passieren – zumal bereits die 94. Minute lief.
Und doch: Ausgerechnet der deutsche Kapitän Philipp Lahm passte bei einem Doppelpass der Franzosen am Strafraumeck nicht auf und ebenso ausgerechnet stand plötzlich Karim Benzema, frei vor dem deutschen Tor, frei vor Manuel Neuer. Wild entschlossen, die Chance dieses Mal zu nutzen, sein Team in die Verlängerung und sich diesen Tag zu retten, holte Benzema all das aus seinem linken Bein, was er mehr als zwei Jahrzehnte in es hinein trainiert hatte. Experten schätzten im Anschluss an das Spiel, auf mindestens 100 Stundenkilometer Ballgeschwindigkeit – ein sicheres Tor eigentlich, nicht an diesem Tag. Denn Manuel Neuer war nicht gewillt, dieses Geschoss – wie schnell auch immer – passieren zu lassen. Allerdings war er auch nicht gewillt, den Ball, der hoch auf das Torwarteck zu kam, mit einer irgendwie spektakulär anmutenden Parade abzuwehren. Also stellte Neuer blitzartig den rechten Arm in die Flugbahn des Leders und ließ ihn daran wieder in die Weiten des Feldes abprallen – einfach so. Er wehrte ihn nicht ab, faustete ihn weg oder rettete ihn ins Aus – nein: Neuer ließ ihn einfach abprallen – an seinem Arm! Und das, ohne dass der auch nur einen einzigen Zentimeter nachgab. Selten sah eine Torwartparade so leicht aus, als ein Ball doch eigentlich so unhaltbar war. Benzema wirkte wie weggetreten als er sich nach dem Schuss abdrehte und an dieser Tat schier zu verzweifeln drohte. Direkt nach diesem Schuss pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab.
Schon gegen Algerien hatte Neuer, den im Nachhinein vielleicht gefährlichsten Gegner des Turniers mit seinem Spiel zur Verzweiflung getrieben: 19 Ballkontakte außerhalb des Strafraums sorgten dafür, dass viele WM-Beobachter die Wiederauferstehung des Liberos feierten. Und doch bleibt vor allem diese Szene im Maracana in Erinnerung.
„Wenn der Ball reingeht, ist es ein Torwartfehler!“ Der Satz, den Neuer nach dem Spiel in die Notizblöcke der staunenden Journalisten diktierte, zeigt, wie er selbst die Parade sah und man muss – in Sorge um die Psyche Karim Benzemas – inständig hoffen, dass kein Franzose diesen Satz übersetzte. Benzema hatte so viel in diesen Schuss gelegt: die pochende Wut über die vorher vergebenen Chancen, die schimmernde Hoffnung auf die Verlängerung und das unerschütterliche Selbstvertrauen eines Stürmers, der bis dahin im Turnier immerhin schon 4 Mal getroffen hatte. Doch all das prallte einfach an Neuer ab – an diesem Tag, an dem man wahrlich nicht mit Karim Benzema tauschen wollte.
Dieses Kurzportrait stammt aus Sascha Theisens „Helden“ – wir veröffentlichen ihn an dieser Stelle anläßlich Neuer Rücktritt aus der Nationalmannschaft am 21. August 2024.