Der TSV ist wieder da

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 15.09.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Der TSV ist wieder da

Er überlegte kurz, ob er das Trikot nun wirklich anziehen sollte, als wir am Parkplatz standen und sein Enkel ihm das wunderschöne Schmuckstück aus den Neunzigern mit der Aufschrift „Arei“ unter die Nase hielten. Konnte er wirklich, in seinem Alter noch ein Trikot tragen? Es ratterte in ihm – das konnte man sehen: Einerseits hatte er wohl das Gefühl, die Contenance zu verlieren, auf der anderen Seite lachten ihn diese wirklich attraktiven schwarz-gelben Streifen an, die aus alten Zeiten grüßten als Erwin Vanderbroeck, Ben Manga oder Frank Klemmer in genau diesem Trikot den eh schon ramponierten Rasen am Tivoli umpflügten. Keine Frage: eine schwere Entscheidung, an deren Ende die alten Alemannia-Recken aber schließlich doch die Oberhand behielten. Allen Unkenrufen des Alters zum Trotz zog er sich gutgelaunt das Trikot über, ließ die Jacke, die ihm seine Frau bei knapp 30 Grad im Schatten in die Hand gedrückt hatte auf dem Beifahrersitz und ging top-gekleidet in Richtung Stadion, das er nun schon länger nicht besucht hatte. 

Schon auf der Fahrt hatten sich einige Generationsunterschiede aufgetan, allerdings nicht zwischen meiner Generation und seiner, sondern zwischen seiner und der seiner Enkel. So erklärte er ganz selbstverständlich, dass es völlig okay sei, Bonbon-Papierchen bei laufender Fahrt aus dem kleinen Spalt des Autofensters hinaus in die Freiheit zu werfen, was die „Friday-for-Future“-Generation mit einem ungläubigen Staunen quittierte – erst recht, als er tat, was er vertrat. Auch die Fußballdiskussionen gingen eher aneinander vorbei. Während er fleißig und erstaunlich wortgenau den letzten Auftritt des Stefan Effenberg aus dem Sport1-Doppelpass rezitierte, um die Situation in der Bundesliga zusammenzufassen, setzten seine Enkel dem Tiger-Quatsch ergiebige transfermarkt-Statistiken und „Here-we-go“-Posts eines gewissen Fabrizio Romano entgegen, den mein Vater sicher für einen mittelmäßigen Vorstopper der Serie B in Italien hielt. So redeten die Jungs und er aneinander vorbei und ich gab schon relativ früh auf, den Übersetzer zu spielen. Schließlich wusste ich: Gleich am Parkplatz würden sie eh wieder zusammenfinden. Und genauso war es, als er sich das Trikot von einst überzog und es in Richtung Stadion trug. 

Auch auf dem Weg ins Stadion kam er kaum darüber hinweg, was hier ja wieder los sei, wie viele Leute doch wieder am Tivoli seien und auch wie viele etwas Gelbes trugen oder eben ein Trikot aus sämtlichen Dekaden dieses manchmal so fordernden Vereins. Es war ihm anzusehen, wie froh er war, sich für das Trikot und gegen die Jacke entschieden zu haben. Alemannia schien ihn wieder gefunden zu haben, noch bevor auch nur ein einziger Ball getreten, ein einziges Tor geschossen war. 

Ein herzhafter Biss in seine Stadionwurst, begleitet von einem faszinierten Blick in die voll besetzte Fankurve – Alemannia kann einen echt umhauen, wenn man lange nicht da war. Zu Hause schraubt er fleißig an einem Rekord im „alle Spiele gucken“, die das lineare Fernsehen und Sky hergibt. Streamingdienste, auf denen Alemannia läuft, übersteigen allerdings seine Toleranz. So weit kommt es noch, dass er sich Fußballspiele anguckt auf Internetseiten, die früher Telefone verkauften. Nicht mit ihm. Dann schon lieber Effenberg, Helmer und irgendein Schmierfink von der BILD im Doppelpass. 

Im Stadion jedenfalls ließ er sich bereitwillig die Sonne auf den Kopf brennen und freute sich über die Leidenschaft des kleinen Jungen hinter uns, der bittere Tränen weinte und unerlaubte Flüche in Richtung Schiedsrichter schickte, als Alemannia begann zu verlieren. Er fieberte bei jedem Angriff, bei jeder Abwehraktion mit, wie ich es nun schon seit so viel Jahrzehnten von ihm kenne. Zwar berichtet meine Mutter oft davon, dass er oft einschläft in seinem Fernsehsessel, wenn ein Spiel mal nicht hält, was es ihm eigentlich versprochen hatte, aber eines kann man ihm nach all den Jahren eben nicht absprechen: Er liebte das Spiel immer und er liebt es noch immer. 

Irgendwie war es klar, dass Alemannia das Spiel verlieren würde bei seinem Comeback. Alles andere wäre auch zu kitschig gewesen – so ehrlich muss man sein. Und es war auch gar nicht notwendig. Die neue Atmosphäre in diesem fast vollen Stadion, die Freude der Menschen, die Alemannia ihnen und eben auch seinem Sohn und seinen Enkeln bereitet – all das schien ihn schwer zu beeindrucken und eben auch glücklich zu machen. Der TSV ist wieder da – schön, dass auch er das gesehen hat. Der Fußball jedenfalls zeigte sich an diesem Nachmittag von seiner besseren Seite – egal, wie der Kick am Ende ausging. Und wer wüsste das mehr zu schätzen als er? Gut, dass er das Trikot angezogen hatte. 

Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo anläßlich des spätsonntäglichen Heimspiels der Flutlicht-erprobten Alemannia aus Aachen gegen Viktoria Köln.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker