Der Fußballgott in Wuppertal
Wuppertal. Am Abend vorher hatte ich Schnaps mit einem Westfalen getrunken, was man nicht tun sollte, wenn so ein Spiel ansteht, ein Hochrisikospiel. Noch dazu war es kalt, also so richtig kalt, scheisse-kalt. Kein Spiel für schwache Nerven, ein Auswärtsspiel. Ein Spiel für lange Unterhosen. Auswärts kennt keine Kompromisse
Wir brauchten eine gute halbe Stunde, um das Kassenhäuschen zu finden, das letztlich ein in der Mitte seiner Höhe zersägtes Telefonhäuschen war. Ein noch lebender Mann verkaufte daraus das Auswärtskontingent. Ihm gegenüber und um ihn herum stand ein ganzes Pulk Auswärtsfans. Deren gemeinsamer Kater, verrührte man all den Kopfschmerz und all das taube Gefühl in all den Augenhöhlen, hätte – so viel war klar – geradezu nukleare Sprengkraft entwickelt. Auswärts kennt keine Kompromisse. Selbst bizarre Szenen in der Unterführung, die zu den Stehplätzen führte, konnte niemanden erschüttern. All das Urin, das all die Auswärtsfans aus ihren Schniedeln an die Seitenwände dieses Tunnels schüttelten, gehörte irgendwie dazu. Das wie dahin gepinkelte laute Echo ihrer Gesänge, das von den nassen Wänden, mit denen man nun wirklich nicht tauschen wollte, zurück in den Tunnel prallte und das selbst als Echo eher lauter als leiser zu werden schien, packte mich viel mehr – es war laut, es stank, aber es kannte keine Kompromisse. Wuppertal.
Ich hoffte das Beste und das war nicht viel. Alemannia hatte mir schon viel zu oft in den Schritt gefasst, als dass mir jetzt mit zu viel Hoffnung der Selbstbetrug gelingen würde. In Wuppertal ging es um die Tabellenspitze und das hatten sie noch immer vergeigt. Trotzdem war ich zu allem bereit – war bereit für verkohlte Stadionwürste und ein kaltes Konterbier, wovon es reichlich gab in diesem Kühlschrank, den sie Wuppertal nennen.
Und doch – Alemannia überraschte mich als das Spiel begann und hatte die Bedingungen deutlich besser im Griff als ich und all die anderen, die eben noch diesen Tunnel ertränkt hatten. Anton Heinz, den sie „Fußballgott“ rufen in Aachen, versenkte gleich zwei Freistöße in einer Halbzeit. Einen flatterte er aus gut 60 Metern – und meine Erinnerung trügt mich da um keinen Meter – direkt unter die Latte. Den anderen schweißte er aus gut und gerne zwei Kilometer Entfernung direkt in den Knick. Was Fußballgötter halt so machen.
Den Zauber eines Freistoßes verstehen nicht viele, nur die, die sie schießen dürfen. Wir wissen das. Wir Herren des ruhenden Balls – ich und die wenigen anderen.
Nur Du und der Ball. Hältst Du die Erwartungshaltung vom Spielfeldrand aus oder erdrückt sie Dich? Triffst Du auch dann, wenn Du musst oder nur dann, wenn Du kannst? Es ist nicht vielen gegeben, mit diesem Druck umzugehen. Mir wurde es einmal gegeben, ein einziges Mal, in all den Jahren. Ich hatte meine Karriere bereits beendet, kam aber noch einmal zurück, auswärts, nicht in Wuppertal, sondern in Boich-Thum – einem kleinen Dorf in der Nähe Stockheims, wo ich jahrelang die Zweite Mannschaft des dortigen TSV 09 prägte. Es war ein alter, etwas schräg geneigter Platz am Rande einer Schnellstraße, den man kennen musste, um ihn zu finden. Die Alten Herren Boich Thum trafen auf die Alten Herren Stockheim. Mein Gegenspieler, dessen Knie-Bandage aufgrund fehlender Muskulatur zum Schienbein runtergerutscht war, foulte mich aus Gründen, die nur er kannte. Klare Sache: Der Schiedsrichter pfiff, zeigte gelangweilt nach vorne und entschied auf Freistoß.
Nun kann man über Alte Herren-Mannschaften sagen, was man will, aber an Grundsätzen hat es dort nie gemangelt. Einer davon: Der Gefoulte schießt selbst.
Die Mauer stand schlecht und im Tor stand Joe Biden. Trotzdem war es alles andere als leicht. Denn leicht sind Freistöße nie. Der Druck, das Spiel, die Mauer. Ich weiß noch, wie ich den schwierigen Weg um die Mauer herum wählte, weil sie direkt vor der Torwartecke stand. Die Torwartecke heißt Torwartecke, weil sie dem Torwart gehört. In Boich-Thum stand die Mauer genau vor der Torwartecke und niemand zeigte Interesse daran, sie zu korrigieren – weder der Torwart, noch jemand in der Mauer. All das war so deutlich zu sehen, dass es fast schon weh tat. Und trotzdem kam der Kapitän der alten Herren, Victor, zu mir und flüsterte etwas zu laut „Guck mal, wo die Mauer steht!“. Die Mauer schaute zwar etwas irritiert, blieb aber trotzdem vor der Torwartecke stehen.
Der Rest ist Stockheimer Fußballgeschichte: Ich schaute nach links und drehte den Ball rechts um die Mauer herum. Wie in Zeitlupe flog er zielsicher, unerreichbar für den verduzten Joe Biden, direkt in die Boich-Thumer Maschen. Tor. 5:4 für Stockheim, was ichgerade erfunden habe, weil ich den wahren Spielstand vergessen habe. Was ich aber mit Bestimmtheit weiß und was hier und heute anwesende Stockheimer Legenden bestätigen können: Noch heute erzählen sie sich in Boich-Thum und vor allem in Stockheim die Geschichte dieses Freistoßes.
Doch zurück nach Wuppertal, wo Anton Heinz, den sie „Fußballgott“ rufen in Aachen, gleich zwei Freistöße in einer halben Stunde verwandelt hatte. Hier in Wuppertal lehnte ich mich entspannt gegen meinen Wellenbrecher und genoss die Kälte genauso wie meinen Kater. Irgendwie schien sich alles zu fügen – der Fußballgott, dieses Kassenhäuschen, die lange Unterhose, die beiden Freistöße, die Sache damals in Boich-Thum. All das ergab plötzlich einen Sinn. Die Aufstiegsträume im Stadion am Zoo blühten wie lange nicht – bis plötzlich doch alles wie immer zu werden schien: Alemannia tat ihr Bestes, um dieses Spiel noch aus der Hand zu geben. Uli Bapoh, ein Neffe von Samuel Eto, den sie in Aachen „Ullliiiii“ rufen, holte sich nach einem beeindruckenden Ausraster eine mehr als berechtigte rote Karte ab. Die Folge: drei Gegentreffer und ein plötzlich wie entfesselter Gegner. Der Fluch dieser langen Jahre Regionalliga schien zurückzuschlagen. Es wurde wieder kalt am Wellenbrecher. Plötzlich schien sich rein gar nichts mehr zu fügen. Stattdessen machte Alemannia aus einer komfortablen 3:0-Führung ein besorgniserregendes 3:3 und alle, die schon lange hingehen, wussten: Das geht jetzt mitten in die lange Unterhose. Vierte Liga, das hatten wir längst gelernt, bedeutet uneinholbare Spielstände bei Minusgraden noch aus der Hand zu geben. Da würde Wuppertal keine Ausnahme sein.
Das Ergebnis blieb bestehen, nur Wuppertal schien am Drücker – bis kurz vor Schluss das Undenkbare geschah: Anton Heinz, den sie „Fußballgott“ rufen in Aachen, setzte zu einem letzten Sturmlauf an, in diesem Scheiß-Wuppertal. Er war erst im Sommer nach Aachen gekommen und wusste nichts von irgendeinem Regionalliga-Fluch, der seit so vielen Jahren auf uns lag und jetzt gerade wieder eine ganze Fankurve lahmlegte. Ganz Wuppertal versuchte ihn aufzuhalten. Also foulten sie ihn – rüde und rücksichtslos, so sehr, dass er, den sie Fußballgott rufen in Aachen, einen Wadenkrampf zugezog. Er wälzte sich am Boden. Der Schiedsrichter entschied auf Freistoß.
Die Alte-Herren-Regel kam wieder ins Spiel. Der Gefoulte schießt selbst. Also wurde Der Fußballgott wurde wieder aufgestellt, um diesen letzten Schuss der Partie zu schießen.
Als er so dastand in Wuppertal, bereit für diesen Freistoß, war meine Hoffnung wegen all der Jahre gering. Außerdem war klar: Wenn Du schon zwei versenkt hast, machst Du den dritten eigentlich nicht mehr. Wer wüsste das besser als ich?
„Den macht er jetzt auch noch!“, rief irgendeiner hinter, vor oder neben mir. Wer kann schon sagen, wo er stand oder wer es war? Vielleicht war es Victor, der nach all den Jahren noch einmal zu mir sprach. „Guck mal, wo die Mauer steht!“
Und dann nahm Heinz, den sie „Fußballgott“ rufen in Aachen, Anlauf – aus einem breiten Cristiano-Ronaldo-Stand heraus, der in der Regionalliga noch etwas lächerlicher wirkt als ohnehin schon. Vier, fünf, vielleicht sechs Schritte – genau wie er es vorher im Rückwärtsgang vermessen hatte. Mit seinem linken Fuß, aus dem er erst kurz zuvor seinen Krampf geschüttelt hatte, traf er den Ball, so wie Freistoßgötter das mittlerweile machen: das Leder leicht streichelnd mit dem Innenrist kurz über dem Ventil treffend und das Bein dabei nicht ganz durchschwingend – ein bisschen rotzig und doch irgendwie zärtlich. Es war, als konnte man die Flugbahn des Balles hören, so leise war es in diesem Moment in dieser so vollbesetzten, eiskalten Kurve irgendwo am Ende der Regionalliga-Welt. Es zischte beim Stand von 3:3 in letzter Minute und selbst jetzt, wenn ich an den Moment zurückdenke, zischt es noch einmal. Der Ball flog in einem unwirklichen Bogen, weit über die Mauer und schlug direkt im Winkel ein, unhaltbar für jeden Torwart, egal wer, egal wo, egal wann
Anton Heinz hatte ihn reingemacht. Tatsächlich. Mit einem Wadenkrampf im Bein. Ich schaute nach dem Typen, der das gerade erst vor ein paar Sekunden noch vorhergesagt hatte. Aber da war niemand. Stattdessen brachen alle Dämme. Der Ton ging aus und alles um mich herum eskalierte in komplett lautloser Zeitlupe. Ich sah nur noch herumspringende Menschen in diesem plötzlich brandheißen Wuppertal, sich ohnmächtig an den Kopf greifend, wie von Sinnen irgendetwas brüllend, das wahrscheinlich über ein ungläubiges „Aaaarrrrghhh“ nicht hinausging. Unten vor dieser völlig entfesselten Kurve lag ein jubelndes Anton-Heinz-Knäuel aus Fußballgöttern in weißen Alemannia-Trikots. Sie lagen vor lauter sich schüttelnder Köpfe, vor gereckten Fäusten und atemlosen Schreien. Alles schien sich zu entladen in diesem einen Freistoß-Moment von Wuppertal, der eigentlich so unmöglich war. All die Jahre Regionalliga, all die verschenkten Spiele, all die Scheiße fiel plötzlich ab. Anton Heinz, den sie „Fußballgott“ rufen in Aachen, hatte all das einfach in die kühlen Maschen von Wuppertal gehauen.
Wuppertal auswärts, das war dieser Moment. Er kam plötzlich und unerwartet, ganz anders als in all den Jahren davor. Er war laut und er war leise. Er war kalt, es war warm. Er war unmöglich und geschah trotzdem, in all der Kälte, so weit weg von zu Hause. Anton Heinz, Du Stadionwurst! Du Konterbier! Du Wellenbrecher! Du Boich-Thum! Du lange Unterhose! Anton Heinz – Du Aufstieg! Anton Heinz, den sie Fußballgott rufen in Aachen.
Dieser Text von Sascha Theisen gab dieser anläßlich der TORWORT-Lesung vom 12. Oktober 2024 zum Besten. Lang lebe Anton Heinz!