Wer soll diesen FC stoppen?!
Jedesmal, wenn Nirvanas „Smells like Teen Spirit“ läuft, sehe ich mich in einem schummrigen und hässlich gefliesten Partykeller sitzen. Jedesmal bei R.E.M.s „Shiney Happy People“ zwinkert mir mein damaliger Kumpel Jens verschmitzt zu, als er heimlich vom selbstgebrannten Schnaps seiner Eltern nachgießt. Und wenn irgendwo „Clint Eastwood“ von den Gorillaz erklingt, kommen unweigerlich die Bilder einer Mannschaftsfahrt nach Prag vors innere Auge. Bilder von Mitspielern, die noch heute den Atem rauben.
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass man Musik für den Rest seines Lebens gut findet, die man während des Erwachsenwerdens mag. Unabhängig davon, ob sich der Musikgeschmack im Laufe der Jahre noch ändert oder nicht.
Dies liegt daran, dass in diesen Jahren die Musik durch ihren unmittelbaren Kontakt zum Emotionszentrum – und den Eindrücken, die man zum ersten Mal in dieser Form erfährt – auf ewig mit dieser positiven, aufregenden und wilden Zeit verbunden bleiben. Verbunden mit den ersten Partys ohne elterliche Aufsicht, mit den ersten Geschmackserlebnissen aus bis dato verschlossenen Flaschen, verbunden mit dem ersten Date oder mit dem ersten Rausch – und natürlich mit dem unvergesslichen ersten Liebeskummer… Plötzlich tauchten Mädchen auf Partys auf, die Sabrina, Michaela, Tanja oder Martina hießen. Man unternahm unbeholfenen Kram, der nicht immer ästhetisch daherkam. Die Michaelas, Tanjas, Sabrinas oder Martinasbrachten ganze Freundeskreise in Wallung. Und dazu lief AC/DC, Pearl Jam, Bruce Springsteen, Guns n‘ Roses oder Nirvana.
Zu jedem Song aus dieser Zeit des Heranwachsens erscheinen unweigerlich Bilder im Kopf.
Aber es gab damals nicht nur Musik. Es gab auch damals schon den Fußball. Fußball mit ersten Dauerkarten und Auswärtstouren.
Nur kurze Zeit, nachdem meine Hirnrinde mit Musik ausgekleistert wurde, hat sich erstmals ein außergewöhnlicher Trainer ins das unerschütterliche Emotionszentrum des Fußballs verankert.
Ein Trainer sprang buchstäblich in das gefühlsüberladene Dauergedächtnis vieler FC-Fans. Dabei hätte es uns zunächst nicht dreckiger gehen können zur damaligen Zeit. Der FC war erstmals überhaupt aus der Bundesliga abgestiegen und setzte dem Trauerspiel mit der schlechtesten Saison der Vereinsgeschichte noch die Krone auf. Es gab kaum noch Argumente, aber trotzdem pilgerten wir weiter in die Müngersdorfer Betonschüssel und fuhren nach Gütersloh oder Oberhausen. Und plötzlich tauchte dieser Trainer auf. Ein Trainer, der gefühlt aus dem Nichts kam.
Zwar hatte dieser Trainer bereits viele, viele Jahre als Spieler und Trainer Bundesligageschichte geschrieben, aber aus Sicht vieler junger FC-Fans wussten wir zunächst nicht, was wir mit ihm anfangen sollten – und wir kapierten erst recht nicht, wie uns dann geschah – so in etwa wie damals, als die Michaelas, Sabrinas oder Martinas auf den Kellerpartys auftauchten.
Dieser Trainer war anders, dieser Trainer war aufregend. Mit diesem Trainer machte der FC auf Anhieb Spaß. Es entstand zum ersten Mal und innerhalb kürzester Zeit ein unbeschreibliches Gefühl – so wie der Freiheitsgewinn nach bestandenem Mofa-Führerschein. Wir sahen einen Fußball mit erstmals eigenen Augen, wie wir ihn bis dato von Spielern mit dem Geißbock auf der Brust kaum kannten – Pröll, Sichone, Ojigwe, Lottner, Scherz, Springer, Wollitz, Hasenhüttl, Christian Timm. Allein diese Namen bringen das Gefühl zurück. „Wer soll diesen FC stoppen?“, titelte ein Boulevard-Blatt. Ein Blatt, dem man sonst besser nicht vertraut. Aber in diesem Fall sprach es uns aus der Seele. Lottners linker Präzisions-Huf, der Trainer im blauen Hemd. Bilder, die für immer bleiben. Der Aufstieg 2000 bildete den zwischenzeitlichen Höhepunkt, der schon in den Monaten zuvor den Zuschauerschnitt in der zugigen Betonschüssel in die Höhe trieb.
Am 8. Mai 2000 machte ein 5:3-Auswärtssieg in Hannover, nach 0:2 und 1:3-Rückstand das Glück perfekt. Eine ganze Stadt, eine ganze Generation war ihm spätestens jetzt verfallen.
Wir hörten Interviews, wie wir sie nicht kannten – offen, direkt, ehrlich – manchmal auch schmerzhaft ehrlich. „Ihr steht hier wie die Geier.“, rief der FC-Coach den Medienvertretern am Geißbockheim zu. „Ich werde länger hier sein als Sie!“
Es war so, als würde man zum ersten Mal ein Album von Pearl Jam, Guns n‘ Roses, Bruce Springsteen oder Nirvana hören. Ein Trainer, der uns allen den ersten Schnapps einschenkte.
Leider hat auch diese Zeit ein viel zu frühes Ende genommen – so wie jede gute Kellerparty bei Morgengrauen mal ein Ende findet – Kater inklusive.
Leider hielt die Prognose des Trainers der Realität nicht stand, dass er länger am Geißbockheim tätig sein würde als die rumgeiernden Journalisten.
Dieser eine FC-Trainer ist wie kaum ein anderer Übungsleiter der vergangenen Jahrzehnte fest im unerschütterlichen Emotionszentrum tausender FC-Fans wie ein brachialer Rocksong verankert – danke für diesen fußballerischen Teen Spirit.
Vielen Dank, Ewald Lienen!
Diesen Text las der formidable Frederic Latz anläßlich der TORWORT-Lesung am 12. Oktober zur Begrüßung von Ewald Lienen.