Der freie Raum

Erinnerung an einen Peter Schmitz

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 25.10.2024
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Der freie Raum

Wahrscheinlich gab es schon sehr viele Begegnungen vorher, aber die erste klare Erinnerung an „einen Peter Schmitz“, wie wir später in Anlehnung an „einen Lothar Matthäus“ sagen sollten, ist umrandet von Bauzäunen und einem Vereinsheim, das später als Ergebnis einer außer Kontrolle geratenen Weihnachtsfeier der zweiten Mannschaft des TSV Stockheim 09, in der er und ich regelmäßig zwischen Anfangsformation und Ersatzbank pendelten, mit Benzin und einem Feuerzeug um ein Haar in Flammen aufgegangen wäre. 

„Ein Peter Schmitz“ und ich hatten viel gemeinsam, nicht nur neben, sondern auch auf dem Platz. Wir waren beide fast gleich langsam. Er etwas langsamer als ich, dachte ich und bestritt er. Ich etwas langsamer als er, dachte er und bestritt ich. Auf dem grünen Stockheimer Rasen schrieben wir nicht gerade Fußballgeschichte. Aber: Wir verstanden das Spiel, weil es uns beiden so wichtig war und wussten daher, wo der Ball hingehörte, wenn man ihn zu spielen hatte oder jemandem beim Spielen zusah. 

Ich war gerade aus der Voreifel nach Stockheim gewechselt und stand für einige Minuten gemeinsam mit „einem Peter Schmitz“ auf dem Feld, was selten war, weil sich eigentlich kein Trainer dieses Tempo leisten konnte. Diesmal war es trotzdem so. Von draußen beobachte sein Kumpel Schorri die kickende Szenerie und die beiden unterhielten sich quer über den Platz über das Spiel, das ja eigentlich noch lief. „MAZDA! JETZT!“ rief Schorri als „ein Peter Schmitz“ den Ball hatte. Ich stand irgendwo an der rechten Außenbahn und sah, dass im Sechszehner freier Raum war, in den ich jetzt eigentlich hineinlaufen musste. Aber unsere Spiele Sonntags begannen früh und ich war oft zu müde, um zu sein, wo ich sein sollte. Wie gesagt: Wir verstanden das Spiel. Es zu spielen war immer unser Problem gewesen. „MAZDA! JETZT!“ rief Schorri erneut und ein kleines bisschen energischer. Peter wurde in seinem Dorf „Mazda“ gerufen, weil sein Vater dort einst ein Autohaus besaß, das Mazdas verkaufte – ein Spitzname, den Du so auch nur in Dörfern wie Stockheim, am Rande der Eifel, verpasst bekommst. Schorri hatte nur diesen Namen und „JETZT!“ gerufen und „ein Peter Schmitz“ wusste sofort, was er meinte. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie sicher schon lange zusammenspielen mussten, um sich so blind zu verstehen und dann rief Mazda schon über den gesamten Platz „JA! DA MUSS ER HIN!“. Dann legte er den Ball genau dort in die Gasse, von der ich vorher wusste, dass ich eigentlich hineinlaufen musste. Er spielte ihn allerdings dort hin, in der Annahme, dass niemand seinen Gedanken aufnehmen würde, weil ich zu müde war und all die anderen das Spiel nicht verstanden. Sein Pass war wie ein Protest – ein Protest gegen das Limit, das über diesem Kreisligaspiel in vielerlei Hinsicht lag. Sein Ball kam so perfekt, dass ich mich schließlich und tatsächlich doch noch dazu aufraffte, ihm hinterherzugehen. Und was niemand erwarten konnte: Ich bekam ihn – wenn auch nur, um ihn dann kläglich in die Arme des gegnerischen Torwarts zu schaufeln. 

Von draußen brandete Applaus auf, der aber nicht mir, sondern ihm galt. Die karg erschienene Fangemeinde feierte den Sohn Stockheims für seinen Pass. Sie mochten ihn in diesem Ort – ihn, der Bambini Clubmeister im Tennis 1980 und 81 war, wie er nie müde wurde zu erwähnen. Doch mit Tennis hatte dieser Moment hier gerade nichts zu tun. Und so hielt sich der Gefeierte auch nicht großartig damit auf, mich für meine klägliche Aktion zu schelten. Stattdessen stakste er im für ihn höchsten Tempo auf seinen etwas zu dünnen und behaarten Beinen unter dem Raunen seiner Crowd zurück ins Mittelfeld. Diese Szene hatte etwas Heroisches, etwas Großes. Vielleicht war sie die stärkste Fußball-Aktion, die ich je sah. 

Als ich ihn das letzte Mal sah, spielte Fußball keine Rolle mehr in unserem letzten Gespräch. Seither sieht niemand mehr den freien Raum dort vorne im Stockheimer Strafraum und niemand applaudiert mehr, wenn er ihn einen Pass wie einen rollenden Gedanken dort hineinspielt. Nichts fehlt mir seitdem mehr als mit „einem Peter Schmitz“ zu kicken, anschließend mit ihm auf dem Rand seines Kofferraums ein Bier zu trinken und darüber zu sprechen, wer von uns langsamer sei. Niemand versteht mehr das Spiel seitdem. 


Dieser Text ist „einem Peter Schmitz“ gewidmet, der der einzige Peter Schmitz war und den freien Raum kannte, als ihn noch niemand für möglich hielt. Er fehlt seit acht Jahren allen, die das Glück hatten, ihn zu kennen.

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker