Der Zauber des Spieltags
Spieltag ist Festtag. Auch einer dieser Sprüche, der aus den Siebzigern, vielleicht den Achtzigern stammt, aber die Zeit überdauert. Als ich klein war und Fußballspiele eher selten in voller Länge im Fernsehen übertragen wurden, waren Spieltage außerhalb des Stadions quasi abstinent und eben genau deswegen Festtage, wenn sie doch stattfanden. Wenn ich mit nassen Haaren und in einen Frottee-Bademantel gewickelt, ein Länderspiel, sagen wir mal „Deutschland gegen Finnland“, schauen durfte oder wenn irgendein Europapokalspiel völlig überraschend, weil kurzfristig angesetzt, auf einem der dritten Programme mit Herbert Watterott am Mikrofon übertragen wurde, dann war die Welt in Ordnung. Das überdauerte. In den mittleren Neunzigern begrüßten wir uns in der Kabine an Spieltagen mit genau diesem Satz, bevor wir unsere Trikots aus dem Trikotkoffer zogen, der damals tatsächlich noch ein Koffer aus Leder war, und gingen es an. Spieltage machten Festtage und machen sie immer noch. Bis heute haben Spieltage nichts an ihrer Faszination verloren – egal ob Du selbst spielst oder anderen dabei zuschaust.
Spieltage, nein: Festtage sind voller Aberglauben, Vorfreude und Träumereien. Du debattierst mit deinen Stadionkollegen ernsthaft ellenlang darüber, ob Alemannia nur deswegen gewinnt, weil alle eine Cristiano-Unterbuxe tragen oder ob es mit Pudelmütze oder Fischerhut besser läuft als umgekehrt. November ist eigentlich Pudelmützen-Monat, aber kannst Du es wirklich wagen, zu wechseln? Du analysierst die Tabellensituation, in die Du die drei Punkte, die heute ja eigentlich erst noch gewonnen werden sollen, natürlich längst mit eingerechnet sind und dann weißt Du: Pudelmütze. Muss. Denn schließlich träumst Du von großen, entscheidenden Partien im Mai, schon jetzt im November. Wie soll das ohne Pudelmütze gehen?
Der Zauber von Spieltagen beginnt, so viel ist klar, schon weit vor dem Anpfiff. Im November schmeckt er nach herrlich kaltem Bier, bei kaltem Wetter. Schmeckt nirgendwo sonst, hier aber schon. Der Spieltag passt so perfekt, wie Dein Hintern in den Schalensitz, den es – das fiel mir erst kürzlich auf, in dieser arschangepassten Form auch nur in Stadien gibt. Kaltes Bier, geschwungene Sitzschalen, blühender Flachs – mal ernsthaft: Nichts ist so perfekt wie der Spieltag. Wer oder was kann es schon aufnehmen mit der sich aufbauenden Kulisse des Spieltags, wenn Du die Stufen aus dem Außenbereich des Tivoli hoch und direkt hinein den Innenbereich gehst? Dann, wenn sich mit jeder Beton-Stufe ein Stück Atmosphäre mehr aufbaut und im letzten Drittel der eigentlich hässlichen Treppe, der sattgrüne Rasen auftaucht, der mit absolut gar nichts vergleichbar ist. Meist geht Heiner gerade routiniert lächelnd und taktisch begrüßend auf den Schiedsrichter zu, wenn wir leicht zu spät oben ankommen und uns nach einem kurzen, aber intensiven Blick ins weite Rund auf den Weg zu unserem Eins-A-passenden Schalensitz machen. Noch ein kurzer Schluck vom kalten Bier, tief einatmen und ab in den Schalensitz, auf dass Dein Hintern es gut haben möge in seiner gelben Schale. Das Leben scheint einfach an Spieltagen, an Festtagen.
Es gab Zeiten, in denen man in solchen Momenten in ein völlig unbesetztes Stadion schaute, wenn man die Pudelmütze gleich nach links in Richtung Südtribüne drehte. So lange ist das gar nicht mal her, was man aber auch niemandem vorwerfen sollte, denn so war es nun mal in den Tagen, als das mit den Festtagen eher mit Hoffnung als mit Gewissheit zu tun hatte. Klar Spieltage mit 5.000 Zuschauern sind auch irgendwie Festtage, aber sie lassen Dein Herz eben nicht ganz so hüpfen, wie diese Tage an denen der Tivoli ausverkauft ist. Heute ist mal wieder so ein Tag, an dem es sich vielleicht sogar lohnt, erst 20 Minuten vor dem Anpfiff die Treppen hoch zum Stadion zu nehmen, auch wenn der Schiri dann schon längst Heiners Handschlag genommen hat. Denn heute dürfte der Tivoli bis zum letzten Platz besetzt sein, ein Tag, an dem auch der Auswärtsblock in seinen Farben ein Statement setzt, ein Tag, an dem Schalensitze und Ärsche Kirmes feiern und die Cristiano-Unterbuxe vibriert – ein Tag für die Götter. Du schaust ins weite Rund: Alle da! Alle bereit! Mehr geht nicht. Du hast das Gefühl, Du bist im Zentrum der Welt – mittendrin. Alles dreht sich nur um dieses Spiel, Dein Spiel. Nicht anderes ist von Bedeutung. Nichts anderes ist wichtig. Wo anders willst Du sein, wenn nicht hier? Spieltage sind Festtage. Waren sie schon immer.
Diese Kolumne erschien des Heimspiels der wunderbaren Alemannia aus Aachen gegen das ein bisschen weniger, aber auch wunderbare 1860 aus München im Tivoli Echo. Wunderbar ist übrigens selten.