Sweet Abstiegskampf
Kurz vor Weihnachten besuchte ich mit meinem guten alten Freund Freddy von de Ficksöck (ein leicht alberner und fiktiver Nachname, der einmal auf einem holländischen Campingplatz geboren wurde) den Brunton Park in Carlisle, wo sie einem Mann namens Jimmy Glass eine ganze Kneipe im Bauch des Stadions gewidmet haben. Engländer haben ihren Fußball zwar an chinesische, amerikanische oder nahöstliche Investoren verkauft, in Sachen Traditionspflege kann man sich aber immer noch eine gute Scheibe von ihnen abschneiden. Würde ich in Aachen die Erik-Meijer-Kneipe besuchen? Würde ich einen Absacker in der Mario-Krohm-Schänke nehmen? Ist der Papst katholisch?
Jimmy Glass jedenfalls ist in Carlisle so etwas wie der „Godfather of Abstiegskampf“. Ihn als Legende zu bezeichnen, bringt nicht annähernd auf den Punkt, was er für die Menschen in Carlisle bedeutet. Dabei spielte er Ende der Neunziger nur genau drei Mal für United. Trotzdem schoss er im entscheidenden Spiel gegen den Abstieg, in der allerletzten Minute des allerletzten Saisonspiels gegen Plymouth den entscheidenden Treffer gegen den Abstieg, als Torwart. Und er tat das genau eine Woche nachdem er im allerletzten Auswärtsspiel der Saison mit einer unfassbaren Parade einen Auswärtspunkt festgehalten hatte, der im Nachhinein im Verbund mit Glass´ Tor das Abstiegskampfpendel zugunsten von Carlisle hatte ausschlagen lassen. Mehr geht nicht! An der Stelle von Carlisle stieg der Scarborough FC seinerzeit in Englands fünfte Liga ab. Nur ein paar Wochen später musste sich dieser Verein aus dem englischen Ligabetrieb abmelden und kehrte bis heute nicht zurück – ein Schicksal, von dem nicht wenige in Carlisles Pubs sagen, das es auch ihre „Blues“ ereilt hätte, wäre Jimmy Glass nicht gewesen. „Football bloody hell“ oder wie mir ein United-Fan im Carlisle-Trikot in der „Jimmy-Glass-Pub“ zuflüsterte: „My father was crying like a child after Jimmy scored.” Abstiegskampf pur.

Abstiegskampf ist so etwas wie der feuchte Traum von Fußball-Masochisten, die es sich in einem Abwehrkampf zwischen unterdrückten Verlustängsten, beklemmenden Flüchen von hinter ihnen liegenden Abstiegen und unbelehrbarer Hoffnung auf das rettende Ufer mal so richtig gemütlich machen. Ich bin einer von ihnen. Eine Nacht mit Scarlett Johansson oder ein bitterkalter Samstagnachmittag mit schonungslosem Existenzkampf – meine Wahl steht. Schließlich habe ich elf lange Jahre von diesen Sechs-Punkte-Spielen geträumt, in denen es im beinharten Überlebenskampf um alles oder nichts geht, um Drinbleiben oder Absteigen, um Tod oder Gladiolen, um Standhalten oder Untergehen. Fuck – ich liebe diesen Thrill, Mann.
Alemannia befindet sich seit ein paar Tagen trotz einer zumindest sportlich ansprechenden Saison auch im Abstiegskampf. Eigentlich waren sie über die gesamte Saison zu gut dafür, aber nun ist es so. Manchmal hat Abstiegskampf nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun. Er kommt und dann packt er Dich. Du kannst ihn annehmen oder eben nicht. „Da bist Du ja endlich“, denken Typen wie ich, auch im Wissen, dass Dir der Abstiegskampf fiese Brandblasen in die Seele brennen kann. Es gilt das alte Swingerclub-Motto: „Nichts muss, alles kann.“ Auf der anderen Seite: Was wäre das Leben ohne den Tod? Was der Abstiegskampf, ohne die Möglichkeit ihn zu verlieren? Denn klar: Die drohende Niederlage schwebt über Dir wie ein ganzer Eimer „Fury in the Slaughterhouse“, der sich jeden Moment, in jedem Heim- und in jedem Auswärtsspiel über Dir ergießen kann, so dass Du elf Jahre mit einem Ohrwurm von „This is not the time to wonder“ leben musst. Keine Frage: Abstiegskampf, das ist nichts für Einzelkinder, so brandgefährlich, dass sich nicht mal jemand wie Rex Kramer an ihn herantrauen würde. Aber hey: Abstiegskampf, das ist auch die Zeit für Wunder – not the time to wonder. Für Wunder der Sorte Jimmy Glass, von denen Du länger zehrst als von irgendeinem Meistertitel, der Dir letztlich nur eine Scheibe oder einen Pokal und nicht gleich eine ganze Existenz schenkt. Größeres als Abstiegskampf hat der Fußball Dir nicht zu bieten. Packendes Drama, pure Angst, naive Hoffnung – immer wieder die Hoffnung. In den Jahren der Regionalliga war es die Hoffnung auf Abstiegskampf in der dritten Liga, die mich am Leben hielt – die Hoffnung auf Momente, in denen ein völlig enthemmter Heiner im Nieselregen nach dem Spiel noch einmal die „Kloppo-Bumps“ vor der Tribüne auspackt, auf Momente, in dem die Angst vor einer Niederlage so groß ist, dass sie die Sehnsucht nach einem Sieg locker in den Schatten stellt und der Sieg Dich am Ende dann doch noch so toben lässt, dass es Dich zerreißt oder auf Momente, in denen sich der Schulterschluss von Fans und Spielern so eng anfühlt, dass Du das Gefühl hast, selbst auf dem Platz zu stehen. Frenetisch gefeierte Grätschen, mit purem Willen erzielte Tore und gefeierte Last-Minute-Tore im Nieselregen. Sweet sweet Abstiegskampf. Man sollte eine Kneipe nach Dir benennen.
Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo aus Anlass des Heimspiels der immer noch großartigen Alemannia aus Aachen gegen die Zwote des BVB.
