Der beste Nieselregen der Welt

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 27.11.2019
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Der beste Nieselregen der Welt

Es gibt Leute, die lassen ich im November unter Wahrung von penibel aufgestellten Regeln einen grenzwertigen Schnäuzer wachsen. Wieder andere fluchen über das nasskalte Wetter und die frühe Dunkelheit im Spätherbst, der bereits gnadenlos an der Schwelle zum Winter kratzt. Und dann gibt es Leute, die erkennen, was wirklich im November steckt: Nieselregen nämlich – jene besonders zärtliche Variante von Regen, die dem ganzen erbärmlichen Wetter-Rest überhaupt erst den fürchterlichen Namen „Niederschlag“ gibt. Es gibt nicht so viel, was vergleichbar ist mit einer zarten Brise Nieselregen, die gegen Dein Gesicht weht und die tröstende Nässe im kongenialen Zusammenspiel mit gerade noch auszuhaltender Kühle irgendwo zwischen Nase, Wangen und Augen verteilt. 

Und am allerbesten regnet es solche Nieselteppiche in Aachen. Denn hier fällt nicht irgendein Nieselregen, sondern „Eins-A-Nieselregen“, der beste überhaupt. Es mag Leute geben, die meinen, Regen in Aachen, Köln, München, Buxtehude oder weiß der Geier wo, wäre exakt gleich. Leute die glauben, es sei romantische Schwärmerei so etwas Edles wie Nieselregen qualitativ zu verorten. Das Ding ist halt: Die haben alle keine Ahnung – von Regen im Allgemeinen und von Nieselregen im Speziellen. Denn der Aachener Nieselregen ist so etwas wie der Johan Cruyff unter den Nieselregen – dynamisch, elegant, anmutig. Während es anderswo Carsten Ramelows oder Dieter Eiltse regnet, fallen rund um den Tivoli eben feuchte Cruyffs – nicht das Schlechteste, oder?! 

Es ist die größte Tragödie in dem an Tragödien reichen „neuen“ Tivoli, dass er überdacht ist und man nur in den unteren Reihen in den Genuss einer milden Cruyff´schen Gesichtsbenetzung kommt. Das Stadiondach hält den Nieselregen zurück und lässt ihn einfach an sich abperlen, was eine schändliche Verschwendung von Ressourcen ist. 

Wer aber heute alt genug ist, um einst am Würselner Wall gestanden zu haben, der kennt die wahre Berufung des Regens in einem Fußballstadion. Denn hier wurde nicht nur Fußball an einem der schönsten Orte der Welt gegeben, sondern das Publikum ergab sich auch sanftmütig den metrologischen Unausweichlichkeiten eines Novemberabends, an dem sich Gäste wie der Karlsruher SC, 1860 München oder Fortuna Köln die Ehre gaben. Soll heißen, wenn die Sonne brannte, gab es keinen Schatten und wenn es regnete, kein schützendes Dach. Einfacher gesagt: Es regnete, man wurde nass. Was irgendwie salopp und folgerichtig klingt, ist heutigen Stadionbesuchern leider fremd. Undenkbar, dass es in Schalensitzen unter Stadiondächern so etwas wie Wetterfühligkeit gibt. Das war einmal anders und machte für mich einen Großteil der Faszination eines Stadionbesuches aus. Denn es führte dazu, dass man irgendwie mitspielte. Wenn die Spieler durchnass bis auf die Knochen waren, war man es selbst auch und hütete sich Plattitüden wie „Lauf doch mal!“ oder „Geh ‘doch mal richtig rein!“ in den kalten Abend zu schreien. Man hatte ein viel besseres Gespür dafür, wie es sich auf dem Rasen anfühlen musste zu spielen, weil man sich ja selbst auch durch die 90 Minuten kämpfte.

Scheiße war das natürlich schon, wenn es wilden Schnee stürmte oder der Regen in Strömen auf einen runterprasselte – dann gab es zugegeben weder romantische Anwandlungen noch eine andere Gefühlswelt, die man auch im Nachhinein irgendwie ins Positive umdeuten könnte. Anders war es aber eben dann, wenn es nieselte. Denn irgendwie war es dann wie eine stille Vereinbarung zwischen Nässe, Alemannia und Zuschauern. Die nieselige Feuchte belegte die Ränge, man genoss es und sah neben unter und über sich so viele tapfere Menschen, denen das auch nichts ausmachte. Zumal: Alemannia wurde genau in diesen Momenten unwiderstehlich und teilweise sogar unschlagbar. Nur wir wussten das. Und während sich oben der Regen im Flutlicht spiegelte, liefen die Spieler unten auf dem Rasen noch einen Schritt schneller, schossen noch eine Unze härter und grätschten noch ein Stück weit entschlossener als die Gegner, die den Aachener Nieselregen wahrscheinlich für ganz gewöhnlichen Regen hielten. Und auch von den Rängen kam dann ein bisschen mehr Fatalismus als sonst schon. Es wurde lauter, spielbezogener, entschiedener und am Ende gingen glückliche Spieler in ihren vom Matsch verschmierten Trikots an den Rängen vorbei in die Umkleide, unter tosendem Applaus gefeiert. 

Und all die nassen Menschen, wischten sich glücklich den Alemannia-Tau aus dem Gesicht. Ein November-Gefühl, das ich nie vergessen habe. Sollen sich die anderen doch Schnäuzer wachsen lassen oder übers Wetter schimpfen. Die wissen nicht, was wirklich im November steckt. 

Diese Kolumne erschien im Tivoli Echo zum Spiel gegen die Sportfreunde Lotte im November 2019

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker