Die Nacht von Sevilla: LSD als Nasenspray

Artikel veröffentlicht in TORWORT-Senf am 07.07.2022
Erstellt von TORWORT - Die Fußball-Lesung

Die Nacht von Sevilla: LSD als Nasenspray

Wenn Deutschland spielte, saß ich auf dem Boden. Mein Rücken lehnte gegen einen kleinen Fußhocker aus Wildleder. Von da aus richtete ich den Blick auf die ungefähr einen Meter entfernte Schrankwand, in dem der Röhren-Fernseher als Epizentrum des Raumes thronte. 1982 war die erste WM, an der ich wirklich teilnahm, weshalb ich mich auch nicht groß daran störte, dass die deutsche Mannschaft wie ein Haufen Orks durch das Turnier pflügte. Ich ließ sie am Schlucksee zocken, saufen und faulenzen, was das Zeug hielt. Die Auftaktniederlage gegen Algerien weinte ich einfach weg. Und die „Schande von Gijon“ war für mich ein astreiner 1:0-Sieg, den mir auch Eberhard Stanjek nicht schlecht reden konnte. Dies war meine erste WM. Da würde ich sicher nicht wählerisch sein. Ich zitterte bei jedem Spiel die kompletten 90 Minuten mit der Mannschaft, jubelte nach ihren Toren, als hätte ich sie selbst geschossen und erkannte in Uli Stielike grob meinen Onkel Dieter, der schräg gegenüber von uns wohnte. Ich lebte den ersten WM-Sommer meines Lebens. Und der schien nicht zu enden. Denn die deutsche Elf mogelte sich Runde für Runde durch ein Turnier, das mich jeden Tag ein bisschen mehr für sich einnahm. Ich weinte mit den Brasilianern, die so waren, wie ich vielleicht mal sein wollte, aber nie wurde. Ich litt mit dem jungen Maradona, den ein Mann namens Gentille dermaßen mit seinen Tritten folterte, dass es eigentlich für eine ganze Karriere gereicht hätte. Ich wunderte mich über tapfere Schotten ohne Zähne, die nur gegen Brasilien verloren und trotzdem nach der Vorrunde ausschieden. Und ich freute mich für leidenschaftliche Polen, denen ein Sieg gegen die Sowjetunion offenbar mehr bedeutete als alles andere in einer Zeit, in der mir meine Mutter erzählte, dass in Warschau das Kriegsrecht gelte. Es war das erste Mal, das mir dämmerte: Dieses Spiel musste mehr sein als nur ein Spiel. 

In diesem so wunderbaren Turnier erreichte das deutsche Team nach einem Sieg gegen den Gastgeber das Halbfinale gegen Frankreich in Sevilla. Mit dem Abstand der Jahrzehnte weiß ich heute: Das Frankreich des Jahres 1982 war so viel besser, so viel schöner und so viel eleganter als all die Försters, Stielikes oder Dremmlers. Damals sah ich das nicht – warum sollte ich auch? Ich war elf und es war meine erste WM. Meine Eltern setzten die sechste Klasse aufs Spiel und ließen mich das Spiel an einem Wochentag sehen. Die richtige Entscheidung: Denn in Sevilla entstand eines dieser epischen WM-Spiele – eines von der Sorte, die du nie wieder vergisst und die Dir mehr über das Leben verraten als jedes Schuljahr. Und so raubte Sevilla mir am Rand meines Lederhockers alles: den Atem, die Stimme und zuletzt die Contenance. Das Spiel flog rasant mit all seiner Spannung, mit all seiner Dramatik an mir vorbei und alles woran ich denken konnte, war ob Deutschland es gewinnt oder nicht. Ich hatte kein Auge für Platinis Noblesse, für Tresors Dynamik oder für Tiganas Genialität. Alles was ich aufnehmen konnte, waren Briegels Läufe, Onkel Dieters Kampfkraft und – immerhin – Littbarskis umwerfende Dribblings. Ich konnte nur sehen, was den Spielern in Weiß gelang. Was ihnen misslang und den Franzosen glückte, fand seltsamerweise in meinem Orbit nicht statt. Selbst Schumachers Angriff auf Battiston ging an mir vorbei, was aus heutiger Sicht eigentlich nicht möglich scheint. Ich zitterte höchstens darum, ob es einen Elfmeter für diese Attacke gab oder nicht, während mein Vater hinter mir sicherlich nur missbilligend den Kopf schüttelte. 

Als die Verlängerung begann und die Franzosen unwiderstehlich und irgendwie unaufhaltsam auf 3:1 davonzogen, weinte ich bitterlicher denn je in meinem kurzen Leben. Mein bis hierhin so großer WM-Sommer stand auf dem Spiel. Meine Eltern erkannten das Unheil mit all den drohenden Spätfolgen und versuchten mich davon zu überzeugen, dass noch was gehen würde in diesem Spiel – jetzt, wo Rummenigge auf den Platz kam. Ich aber glaubte weder an Rummenigge noch an meine Eltern. Doch Rummenigge selbst glaubte offenbar noch an alles. Zunächst schoss er ein Tor selbst – mit der Hacke. Dann trieb er die deutsche Elf so energisch an, dass bei uns zu Hause, in diesem mit Schrankwänden ausgestopften Wohnzimmer niemand mehr zu halten war, so dass dieser magische WM-Moment, der eine kurze Sekunde zu einer immer wiederkehrenden Erinnerung macht, passieren musste. Horst Hrubesch stieg nach einer Littbarski-Flanke hoch und köpfte den Tango rüber zu Klaus Fischer. Der stand mit dem Rücken zum Tor, schraubte sich hoch in eine gefühlte Unendlichkeit und traf per Fallrückzieher zum Ausgleich. Bis heute habe ich nicht vergessen, wie von da an alles in Zeitlupe ablief: die Jubelstürme, der Sprung in die Arme meines Vaters. Tränen liefen über Wangen, Schauer über Rücken und deutsche Spieler in weißen Trikots mitten durch unser Wohnzimmer – vorbei am Wandschrank, über meinen Ledersessel springend wieder zurück in den Röhren-Fernseher. Klaus Fischer hatte getroffen, per Fallrückzieher, nach einem 1:3 Rückstand, in einem WM-Halbfinale. LSD als Nasenspray. Was folgte war ein nicht weniger dramatisches Elfmeterschießen, das – Achtung Kurzfassung – Onkel Dieter vergeigte und Horst Hrubesch schließlich beendete, ohne vorher den Ball anzufassen. Deutschland war im Finale, in meinem allerersten WM-Sommer. Weder Zico, noch Maradona oder Platini spielten es, dafür Onkel Dieter.

Gerechterweise verlor das deutsche Team dort gegen Paolo Rossis Italien mit 1:3. Dieses Mal hatte Rummenigge von Anfang an gespielt. Wieder weinte ich bittere Tränen. Und trotzdem: Klaus Fischer, Pierre Littbarski und Horst Hrubesch waren meine Helden im Sommer 1982. Ich wollte nichts anderes, als so zu sein wie sie. Erst Jahre später verstand ich, um wieviel größer Platini, Tresor und Tigana waren und was das für eine epochale Niederlage für sie gewesen sein musste. Platini sagte Jahre später über dieses Spiel: „In Sevilla habe ich alle Gefühle erlebt, die das Herz und den Kopf durchströmen können, die ein Mensch in seinem ganzen Leben mitmachen kann.“ Ich verstand, was er meinte. 

Sascha Theisen

STAMMPLATZ-Gründer und Fußball-Romantiker